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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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sagt, gibt noch genug Menschen, die mehr zu essen haben, als sie essen können.«
     
    Sie schlenderten nebeneinander über die Straßen und spähten nach kleinen Gelegenheitsdiensten aus. Sie drängten sich bis in die belebten Geschäftsstraßen, bis in die westlichen Stadtteile. Ihr einträglichstes Geschäft war und blieb Schuheputzen.
     
    Mit Erwins Mutter ging alles gut.
     
    Eines Tages, als Erwin vom Bummel kam, hatte sie ein quiekendes kleines Kind neben sich im Bett. »Kiek mal, Erwin, det ist euer Schwesterchen.« Sie konnte kaum reden, so müde war sie von dem Schreck, daß das Kind nun schon angekommen war. Aber sie fuhr ihm zärtlich über das Gesicht. »Ein schönes Kind is det«, sagte sie, »und richtige Haare hat's auch. Wie wollen wir's denn nennen? Ich denke, wir nennen's Rosa.« Rosa wurde in einen Korb gelegt, der an zwei Stricken von der Decke herabhing und den Erwin schaukeln mußte, damit das Kind Ruhe gab.
     
    Es war ein Glück, daß diesmal trotz allem die Arbeiter den Streik gewannen und nicht mehr ausgesperrt wurden. Drei Wochen waren sie ohne Arbeit und Brot gewesen. Länger hätten sie es nicht aushalten können. Aber nun konnte noch alles gut werden.
     
    Auch Pauls Mutter war wieder gesund. Erwin und Paul atmeten auf. Weiß Gott, jetzt konnte man endlich wieder an den Fußball denken. Die Kasse war recht zusammengeschmolzen, denn Paul hatte darauf gedrungen, daß Erwin für seine Mutter einen Fünfziger herausnahm und dafür Bananen kaufte. Die aß sie so gern. Sie teilte sie sich für mehrere Abende ein. Sie gab sogar den Kindern etwas davon. Anders machte es Mutter nicht.
     
    Als sie wieder aufstand und der Vater den ersten neuen Wochenlohn heimbrachte, gab's sogar einen richtigen Braten mit saftiger Sauce. »Paß auf, Mensch, Paule«, sagte Erwin, und er machte lange Schritte vor Vergnügen, »jetzt kriegen wir bald unseren Fußball. Ich hab' det so im Gefühl!« Vielleicht kam's auch davon, daß die Sonne schien. Der Himmel war märzblau. Es gab bereits Veilchen und Maiglöckchen an den Plätzen zu kaufen. Die Jungen trugen keine Mützen mehr, sondern ließen sich den Wind durch die Haare blasen. Und gerade an einem solchen Tag hatten sie vier Mark zusammen und überlegten ernstlich, ob man das nicht besser in großes Geld einwechseln sollte.
     
    Sie saßen auf der Schwelle des Hinterhauses und erwogen alle Vor- und Nachteile des Einwechselns. Da kam ein Vollzugsbeamter mit zwei Trägern in den Hof und blieb stehen. Der Beamte zeigte zu den Fenstern hinauf, hinter denen Richters wohnten, und überlegte mit den Leuten. Paulchen ahnte nichts Gutes. Er sah ganz erschrocken aus und faßte Erwin an.
     
    »Wenn der nur nicht zu uns kommt«, flüsterte er. »Vater und Mutter haben schon jeden Tag solche Angst gehabt, daß der Hauswirt ihn schickt und uns pfänden läßt.«
     
    Bei Richters ging es noch immer sehr schlecht, obgleich die Mutter wieder gesund war und zur Arbeit gehen konnte. Die lange Krankheit hatte doch Geld gekostet. Der Vater war schon aus allen Unterstützungskassen ausgesteuert worden und fand noch immer keine Arbeit.
     
    Die drei Männer sahen die Eingänge des Hauses nach, und natürlich gingen sie gerade auf den Richterschen zu.
     
    Erwin und Paul erkannten auch gleich am Klang der Klingel, daß es Paulchens Wohnung war, vor der sie haltmachten. Sie schlichen hinterher. Oben war ein erregtes Stimmengewirr. Pauls Mutter jammerte. »Ach nee, auch das noch, auch das noch!«
     
    Der Vater schimpfte. Dazwischen bat er. »Geben Sie mir noch drei Tage Frist. Ich sage Ihnen: drei Tage.«
     
    Sie hatten ihm gerade jetzt Arbeit als Gelegenheitsarbeiter beim Untergrundbahnbau in der Nebenstraße angeboten. Morgen sollte es sich entscheiden. Paul und Erwin standen hinter der Tür und lauschten. Es war gar nichts Neues. Solche Pfändungen kamen jeden Tag im Hinterhaus vor. Wenn einmal der Beamte vom Gericht mit den Trägern da war, dann war nicht mehr zu helfen. Das wußten alle.
     
    Dabei war der Beamte kein böser Mann. Er sagte immer: »Aber, liebe Leute, ich komm' doch von der Behörde. Die schickt mich. Kann ich etwas dafür, wenn die Behörde es will? Ich muß nur meine Pflicht tun. Da steht's, so und so viel Schulden und keine Miete bezahlt. Also — selbst wenn Sie wieder Arbeit finden — das können Sie doch nicht einholen. Oder haben Sie vielleicht Geld? Haben Sie vielleicht vierundsechzig fünfzig für alle Ihre Abzahlungen und Schulden?« Erwin schauderte

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