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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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leichter und besser leben.
     
    Sehr oft, wenn das kleine Mädchen am Abend schlief, ging Frau Sabrowsky noch einmal in den Laden, streichelte dankbar ihre Hüte und Bänder und redete mit ihnen wie mit Menschen. Anstatt ins Bett zu gehen und sich auszuruhen, blieb sie dann lange in der Nacht zwischen ihren Hüten sitzen und nähte, bügelte und preßte die Stroh- und Filzhüte der Nachbarfrauen, bis ihre Augen vor Erschöpfung brannten und zufielen.
     
    Aber eines Tages war mitten in der Woche der Rolladen vor Schaufenster und Tür herabgelassen und am Glas klebte ein Schild:
     
    Infolge Todesfall
     
    SOFORT ZU VERMIETEN
     
    In dem kleinen Zimmer hinter dem Laden saß das kleine Mädchen in einem viel zu langen schwarzen Kleid. Die Ärmel waren hochgekrempelt. Es sah aus, als sei das Kleid nur geliehen worden. Das Kind saß am Tisch vor einer Tasse Kaffee, aber es trank nicht. Es hatte rote verweinte Augen und betrachtete ängstlich die zwei Nachbarinnen, ihren Klassenlehrer und ihren Vormund, den Gemeindeschreiber, die in allen Schränken und Schubladen kramten, um alte Briefe und Bilder der Mutter durchzusehen und zu ordnen, während die Frauen Kleider und Geschirr verpackten.
     
    »Siehst du, Kind«, sagte der Lehrer zu dem weinenden Mädchen, »das verkaufen wir jetzt alles, denn du wirst zu deinen Verwandten nach Berlin gehen, und falls sie dich nicht nehmen können, bringen wir dich ins städtische Waisenhaus.«
     
    Das Mädchen hatte nicht nur Angst vor dem Waisenhaus, sondern ebenso, oder noch mehr, fürchtete es sich vor den unbekannten Verwandten aus der fremden Großstadt. Viel lieber wäre es, anstatt hier zu sitzen und zusehen zu müssen, wie alles gepackt wurde, auf den Friedhof gegangen, um nachzusehen, ob auf Mutters Grab alle Blumen noch schön geordnet lagen, und ob vielleicht — so wie es in alten Märchenbüchern zu lesen war — sich Mutters Stimme hören ließe aus irgendeinem Baum neben dem Grab oder etwas Herrliches auf sie herabschütteln würde, damit sie nicht länger so verlassen unter fremden Menschen leben müßte. Sie wagte aber nicht fortzugehen, sondern sie blieb regungslos am Tisch sitzen und sah zu, was die großen Leute taten.
     
    Ihr Vormund, der Gemeindeschreiber, setzte sich an den Tisch und begann einen Brief zu schreiben. Er sagte alles, was er schrieb, halblaut vor sich hin, damit die andern es hören sollten.
     
    »Sehr geehrte gnädige Frau!
     
    Als einzige Schwester und Angehörige der verstorbenen Frau Sabrowsky, geborene Jedlinka, bitte ich Sie, als Vormund ihres unmündigen hinterlassenen Kindes, mir mitzuteilen, was aus diesem Kind —«
     
    »Schreiben Sie bitte: einem lieben, klugen Mädchen«, unterbrach ihn der Lehrer.
     
    »— einem lieben, klugen Mädchen«, fuhr der Schreiber fort, »werden soll. Die verstorbene Frau Sabrowsky hat keinerlei Barmittel hinterlassen, aus denen die Erziehung des Kindes bestritten werden könnte. Vielleicht sind Sie gewillt, das einzige Kind Ihrer Schwester zu sich zu nehmen. Andernfalls müßte es auf städtische Kosten hier im Waisenhaus untergebracht werden. Es wäre sehr angenehm, wenn Sie selbst herkämen, um den Nachlaß zu ordnen und den Haushalt aufzulösen. Wir bitten um baldigen Bescheid.«
     
    Diesen Brief adressierten sie nach Berlin. Dann verschlossen sie die Schränke und Kommoden wieder, ließen alle Fensterläden herab, riefen das Kind, zogen ihm einen Mantel an und wollten es mitnehmen, damit es nicht länger in der verlassenen Wohnung bleiben müßte.
     
    Doch bevor sie die Wohnungstür schlossen, folgte dem Kind ein sonderbar struppiger, kleiner Hund. Das Mädchen beugte sich zu ihm nieder und sagte: »Komm, Piddel, komm.« Aber als es den Hund in seinen Armen hielt, fing es erneut zu schluchzen an.
     
    Die zwei Nachbarn sagten: »Warte nur, Kleine, bald kommt deine gute Tante und holt dich ab, und sie wird so gut und lieb zu dir sein wie deine Mutter.«
     
    In Berlin
     
    Erwin Brackmann hockte auf dem Asphalt dicht an der Hausmauer neben dem Eingang zu Nummer 67. Er war damit beschäftigt, aus dem Grünkramladen, der fünf Treppenstufen tiefer im Keller lag, aus einem Korb Birnen zu angeln. Er mußte sich sehr vorsichtig bewegen, um nicht aufzufallen. Deshalb hielt er die Arme auf dem Rücken verschränkt. Das sollte den Eindruck erwecken, als lehne er nur aus Langeweile an der Wand.
     
    Zwischen den Händen hielt er einen zugespitzten Stecken, und mit ihm spießte er auf gut Glück in einen

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