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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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sprechen konnte sie. Natürlich war das auch gar nicht anders zu erwarten.
     
    »Ich gehe schon«, antwortete Erwin, und er betonte »ich gehe« besonders deutlich, um ihr zu zeigen, wie man hierzulande sprach.
     
    Im Vorflur bezahlte Frau Manasse den Chauffeur, der die Kiste getragen hatte.
     
    Erwin trat ein. Er war zum erstenmal in der Wohnung von Frau Manasse. Vom Hinterhof aus sah man nur in Küche und Speisekammer. Er hatte sich nie vorstellen können, wie es auf der andern Seite aussah. Ein bißchen unheimlich. Überall lagen schwarze, rote, grüne und blaue oder gelbe Masken mit Löchern anstatt Augen und einem Volant unter dem Lippenspalt. Auf Stangen gespießt, standen Tierköpfe mit klaffenden Mäulern, Eselsköpfe, Knecht-Rupprechte mit langen weißen Bärten und Ungeheuer, wie sie auf den Bildern in den Märchenbüchern zu sehen waren.
    Auf der einen Seite gab es Kleiderhaken, an denen sorgfältig über Bügel gespannt bunte Kostüme in großer Anzahl hingen. Auch auf dem Plüschkanapee und den roten Polsterstühlen lagen Kleider verstreut, eines immer bunter als das andere.
     
    Das kleine Mädchen blieb ebenfalls erschrocken unter der Tür stehen und rief erstaunt: »Oh, oh!« Es ließ sogar vor Schreck den Hund los, der sofort auf die Köpfe zueilte und zu bellen begann. Dann rief das Mädchen noch einmal: »Oh, oh!« und es schien sich zu fürchten, denn es wich zurück und sah sich hilfesuchend um, als ob es fliehen wollte. Erwin begriff das gut. Wahrscheinlich hatte man diese Mirjam irgendwo geraubt oder hierher verkauft. Vielleicht hätte er jetzt sofort eingreifen müssen, um sie zu befreien. Zu Frau Manasse hatte er nie Zutrauen gehabt. Wer weiß, was sie mit ihr tat.
     
    Aber Frau Manasse drehte sich im gleichen Augenblick um, streckte beide Hände aus und sagte wieder: »Komm, Mirjam, komm zu mir.«
     
    Da lief das Mädchen auf Frau Manasse zu, ja mehr, es lief ihr geradezu in die Arme und fing an zu weinen. Aber Frau Manasse streichelte und küßte es und flüsterte lauter unverständliche Worte. Das sah allerdings weniger nach Raub und Gefangenschaft aus. Jedenfalls wurde Erwin nicht recht klug daraus, und er wäre schrecklich gern noch länger hier geblieben, um zu erfahren, woher diese Mirjam eigentlich kam und was für eine Bewandtnis es mit ihr hatte. Doch Frau Manasse zeigte entschlossen auf den Tisch, schob ihm mit ihrem Arm zwanzig Pfennig zu und sagte:
     
    »Du kannst gehen. Hier nimm das und geh beim Bäcker Hennig vorbei. Sag ihm, er soll mir ab morgen früh mit dem Brot einen halben Liter Milch täglich herauf schicken lassen. Du kannst es auch Frau Bergengrün selber sagen. Es ist für das Kind.«
     
    »Ja, bleibt denn det jetzt immer hier?«
     
    Frau Manasse nickte. Sie streichelte noch immer das schwarze Haar des Mädchens. »Ja«, sagte sie, »ja, und ich hoffe, ihr werdet recht lieb zu meiner Mirjam sein, wenn sie erst einmal in den Hof kommt, um mit euch zu spielen.«
     
    Erwin drehte sich jäh um und zog seine Mütze tiefer in den Kopf. »Also denn auf Wiedersehen. Tschüs!«
     
    Er wollte die Neuigkeit, daß Frau Manasse die ausgeliehene Indianerin in den Hof schicken würde, gleich weitergeben. Vielleicht konnten sie sie in der Clique aufnehmen und zu ihrer Anführerin machen.
     
    Erwin stolperte die Treppe hinunter, befühlte die Birne in seiner Hand und beschloß, sie lieber aufzubewahren, um sie Mirjam, sobald sie in den Hof kam, zu schenken.
     
    Es war ein großes Glück, daß der schwarze Willi, der lange Heiner und sein Freund Paul unten im Hof saßen. Nun konnte er die Neuigkeit brühwarm weitererzählen. Sie hörten ihm andächtig zu.
     
    Heiner sagte: »Is ja allerhand. Donnerwetter!«
     
    Paul lief vergnügt hin und her. »Eine richtige Indianerin?« fragte er immer wieder, »eine ganz echte?«
     
    »Na klar, Mensch.«
     
    Der kleine bucklige Emil, der die meisten Indianerbücher gelesen hatte — denn sein Vater besaß einen Bücherkarren voll alter Bücher, mit denen er täglich am Spreeufer stand—, Emil also wollte gleich wissen, von was für einem Stamm sie sei.
     
    Erwin wußte es nicht. »Sie heißt Mirjam«, erklärte er.
     
    »Mirjam?« Emil kniff die Augen nachdenklich zusammen. »Das klingt nach Australien.« Er wußte nicht, ob das richtig war. Er wollte nur etwas sagen, um zu beweisen, daß er in solchen Sachen Bescheid wüßte. »Auf jeden Fall werden wir sie in unsere Clique aufnehmen.«
     
    »Wat denn? So 'nen Mädchen?«

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