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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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beiseitegeschobenen Birnenkorb. Sobald an der Spitze eine Birne war, zog er sie vorsichtig hoch. Das schwierigste war, die Birne, ohne daß sie wieder herabfiel, durch das Kellergitter zu balancieren. Der Keller war voll schwatzender Kundschaft.
     
    Erwin war sicher, daß er nicht mehr als fünf Birnen angeln würde. Er wollte Frau Hase, oder die »Obsthasen«, wie sie genannt wurde, nicht gerade bestehlen, aber er wußte genau, daß sie jeden Abend angefaultes und unscheinbares Obst, welches sie nicht hatte verkaufen können, in den Abfalleimer warf. Sie hielt ihm sehr oft einen Korb hin und sagte:
     
    »Lang zu, mein Junge, bevor es verkommt.«
     
    Er nahm sich also vor, beim nächsten Zulangen fünf Birnen weniger zu nehmen. Erwin war sehr ehrlich und gewissenhaft, aber das Angeln machte entschieden mehr Vergnügen als das Zulangen.
     
    Er pfiff leise vor sich hin und fand den Tag wunderschön. Als er sich mit seinem Birnenvorrat eingedeckt hatte, stieß er mit den Beinen an die Vorübergehenden. Auch das tat er nur aus lauter Übermut, weil es zu lustig aussah, wenn diese Leute plötzlich zu hüpfen und zu stolpern begannen oder sich wütend nach ihm umsahen. Dann rief er sofort ein reumütiges: »Ach, bitte, entschuldigen Sie!«
     
    Unerwartet wurde er gestört und abgelenkt. Ein Taxi mit aufgeschnalltem Gepäck hielt vor Nummer 67. Darüber vergaß er Stecken, Birnen, Beine und Vorübergehende, weil er sich nicht vorstellen konnte, wer in ihrem Haus so vornehm mit einem Auto ankam.
     
    Er sprang auf und trat an den Wagen heran. Eine Frau bemühte sich vergeblich, die Türe zu öffnen, und bevor der Chauffeur herauskommen konnte, hatte Erwin schon die Tür aufgerissen. (Im Autotüren-Öffnen war er Fachmann.) Das tat er immer, wenn er hoffte, sich etwas zu verdienen.
     
    Er sah, daß eine dicke Frau im schwarzen Mantel und mit großem wippendem Hut aus dem Wagen stieg.
     
    »Danke dir, mein Junge«, sagte sie.
     
    Die Stimme kannte er doch? Natürlich! Das war ja die Frau Manasse aus dem Vorderhaus, die »Maskenmanasse«, wie sie hier die Leute im Hinterhaus nannten. Und sie war nicht einmal allein im Wagen. Erst jetzt sah Erwin, daß noch jemand in der Wagenecke hockte, ganz versteckt hinter einer grauen Holzkiste, auf der ein struppiger schwarzer Hund saß. Der Hund begann sofort zu kläffen, als Erwin neugierig seinen Kopf an Frau Manasse vorbei in den Wagen schob.
     
    »Still, Piddel«, sagte eine leise, schüchterne Stimme in einer fremdartigen Betonung. Dann kletterte das Kind aus dem Wagen. Es war eingehüllt in ein schwarzes Umschlagetuch mit langen Fransen, so daß er schwer feststellen konnte, ob das Wesen ein Junge oder ein Mädchen war. Es hob sorgsam den Hund von der Kiste, nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an sich.
     
    »Guten Tag«, sagte Erwin, und er zog sogar tief seine Mütze. Gleich darauf dachte er allerdings verärgert: Zu blöd, det ist ja nur ein kleines Mädchen. Und noch dazu was für ein komisches! Sicher gar keine Deutsche.
     
    Das Mädchen hatte sehr lange, schwarze Haare. Er sah es, weil ihr das Tuch vom Kopf rutschte. Die Haare waren so glänzend, als hätte irgendeiner eine Flasche schwarze Tusche darüber ausgegossen. Und die Augen! Wie zwei Preßkohlen, stellte Erwin fest. Sogar die Haut des Mädchens war merkwürdig dunkel, wie bei einer Indianerin aus seinem Karl-May-Buch.
     
    Erwin vergaß vor lauter Staunen, Frau Manasse beim Koffertragen behilflich zu sein, obgleich sich doch selten eine so gute Verdienstmöglichkeit bot.
     
    »So hilf mir doch endlich«, brummelte Frau Manasse und drückte ihm einen Koffer in die Hand. Zu dem fremden Mädchen aber sagte sie: »Komm, Mirjam, komm!«
     
    Erwin stutzte, als er das hörte. Mirjam? Das war bestimmt eine Indianerin! Wer hieß hierzulande Mirjam? Wirklich, das konnte nur eine Indianerin, eine Zigeunerin oder sonst eine Fremde sein. Wahrscheinlich hatte sie sich Frau Manasse für ihr Maskengeschäft besorgt, um sie gelegentlich auszuleihen!
     
    Er schleppte bewundernd den Koffer hinter ihnen her bis an die Flurtür. Dort stellte er ihn nieder, um zu verschnaufen. Sofort drehte sich der Hund auf Mirjams Arm und beschnupperte Erwin. Auch das kleine Mädchen zögerte einzutreten und sah sich zuerst nach Erwin um. Als sie sein Gesicht betrachtete, lachte sie, daß man ihre weißen, leuchtenden Zähne sah.
     
    »Gieh ock du zuarscht«, sagte das Mädchen und stieß ihn an.
     
    Also nicht einmal richtig deutsch

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