Die Kinder aus Nr. 67
vorwärts! Heiner!« Aber da sprang Erwin vor. Er hielt es nicht länger aus. Viel zu lange schon ließ er sich verleiten mitzumachen und schwieg.
»Zurück«, rief er. »Schämt ihr euch denn nicht? Wollt ihr ein unschuldiges Mädchen verhauen — zehn gegen eine?«
Er drängte seine Kameraden beiseite. Seine Kräfte schienen zu wachsen. Sogar Paul kam ihm endlich zu Hilfe. Er war wieder, wie ehemals, an Erwins Seite. Er, der eben noch Mirjam auf Willis Wunsch festhalten wollte, schob Willi fort und puffte ihn.
Mirjam drängte sich ebenfalls durch. Es gelang ihr erstaunlicherweise, über die Balken zu klettern, die den Eingang verbarrikadierten. Sie war gewandt und beweglich wie eine kleine Katze. Sie hatte sofort erspäht, an welcher Stelle sie ins Freie gelangen konnte.
Erwin hatte sich bis zu ihr durchgekämpft, und er hielt die wütende Clique mit dem immer lauter kommandierenden Willi zurück.
»Hiergeblieben.«
Er zuckte unter Willis Hieben zusammen, aber er wich nicht. Er hielt so lange aus, bis Mirjam genug Vorsprung bekommen hatte. Er hörte nicht auf die bösen Worte, die sie hinter Mirjam herschrien und mit denen sie nun auch ihn bewarfen wie mit Steinen. Endlich aber konnte er es nicht länger aushalten. Willi gab ihm einen solchen Schlag über den Nasenrücken, daß er zur Seite taumelte.
»Ihr nach! Auf!«
Erwin hörte nicht mehr, was sie ihr alles noch nachriefen.
Er sah nur, daß die ganze Clique — sogar sein Freund Paul, Willi an der Spitze — Mirjam nachstürmte.
»Paul«, schrie er entsetzt. »Paule, was tust du?«
Paul drehte sich zögernd ab und kam zu ihm zurück. »Willst du ihr helfen?«
»Will, will«, äffte Erwin ihn nach. »Wir müssen ihr helfen. Schämen sollen sie sich, zehn gegen eine, und noch dazu gegen eine, die fremd unter uns ist.«
Mirjam kam bis vor die Markthallen. Der gebundene Piddel im Arm, hinter dem noch immer der alte Mantel herschleifte, behinderte sie. Sie hatte große Mühe, zwischen den vielen Karren und Lastwagen, die vor der Markthalle warteten, durchzukommen. Überall lagen verfaulte Kohlblätter, zertretene Früchte und nasse Schalen. Der Boden war glitschig und glatt. In ihrer Hast und Angst rutschte Mirjam aus und fiel hin. Sie konnte sich nirgendwo festhalten, denn sie hätte dann den unbeweglichen, keuchenden Piddel loslassen müssen. Sie versuchte aufzustehen, aber sie fühlte einen stechenden Schmerz im Bein und sank sofort wieder hin. Was ist denn das? Sie konnte ja nicht mehr auf den Beinen stehen, und der Schmerz wurde immer schlimmer?
Ein Gemüsemann beugte sich über sie. »Haste dir det Bein verstaucht, Kleene? Det kommt von dem vielen Dreck hier. Aber laß mal zuerst det Vieh los.«
Der Mann versuchte, Mirjam aufzustellen, aber sie knickte sofort wieder ein und fing an zu jammern. »Aua, aua, mein Bein.«
Der Mann befühlte das Bein. »Jotte auch, du hast dir womöglich det Bein gebrochen. He, Sie, Schutzmann, helfen Sie mir mal det Kind da aufheben? Die Jöhre ist ausgerutscht und hat det Bein gebrochen.«
Zwei Polizisten kamen bereitwillig herbei. Auch die Frauen und Männer aus den Gemüsewagen hatten sich angesammelt.
In diesem Augenblick erreichte Willi mit seiner Clique die Gruppe. Die Knaben blieben betroffen stehen, als sie die Polizei und den Menschenauflauf sahen.
»Jungens, die Polente! Zwei Schupos! Los, verduftet! Wer weiß, was sie ihnen jetzt erzählt. Wahrscheinlich hat se uns längst verraten. Seht nur, der Polizist nimmt se uff den Arm.«
Willi hatte es mit einem Mal sehr eilig.
Auf dem Rückweg trafen sie Erwin und Paul. Sie hielten die beiden an. »Mirjam hetzt die Schupos auf uns«, berichtete Willi. »Verunglückt ist sie wahrscheinlich auch.«
»Was denn? Wieso denn?« fragten Erwin und Paul.
»Jawohl, und nun werden wir womöglich bestraft. Wegen Körperverletzung oder so was ähnlichem. Verkrümelt euch, los. Habt ja doch alle mitgemacht. Kann keiner jetzt raus und kneifen.«
Sie liefen fluchtartig heim, ohne sich noch einmal umzusehen. Jeder von ihnen hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn die Polizei erst eingriff, dann erfuhren es natürlich die Eltern und die Lehrer, ach, es war gar nicht auszudenken.
»Mein Vater verhaut mich, wenn ich es mit der Polizei zu tun kriege«, stammelte Emil.
»Verdient hätten wir es«, stellte Erwin ruhig fest. Er war sehr unzufrieden mit sich selbst.
»Was
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