Die Kinder der Elefantenhüter
wieder muss man die Sorgfalt bewundern, mit der das Unterrichtsministerium seine Mitarbeiter aussucht. Der Mann ist an Händen und Füßen gefesselt, und trotzdem bewegt er sich vorwärts wie ein Projektil. Mit dem Brustkasten drängt er Max an die Wand. Anaflabia und Thorkild Thorlacius sind direkt hinter ihm.
Max nimmt Aschantis Sonnenbrille ab. Alexander stiert in das Gesicht vor ihm.
»Das ist nicht möglich!«, stöhnt er.
Die Aufzugtür schließt sich. Ich höre nur noch Maxens Stimme.
»Das hier ist ein Überfall. Ich rufe die Polizei. Ich könnte mir vorstellen, dass sie Sie sowieso schon kennt. Wenn man sich so Ihre Handschellen ansieht. Aber für fünfhundert Kronen könnte ich eventuell in Erwägung ziehen, die Geschichte zu vergessen …«
Hans, Tilte, Aschanti, Basker und ich sitzen im Auto mit Aussicht auf den Kongens Nytorv. Vor uns liegt eine Zukunft von durchwachsener Qualität. Gleich wird Hans das Auto anlassen und uns zur Polizeiwache in der Store Kongensgade fahren. Vier Menschen werden dann daran gehindert, religiöse Kleinodien im Wert von einer halben Milliarde zu vernichten, falls wir das alles richtig verstanden haben. Das ist die positive Seite. Aber dann kommen die Fahndung nach Mutter und Vater, ihr Prozess und die Gefängnisstrafe und für mich die Zeit im Kinderheim und für Tilte im Jugendwerkhof und für Basker dunkle Aussichten auf ein Leben in der Hundepension – im besten Fall.
Wir haben getan, was wir konnten. Besser ging’s nicht.
Zwischen dem, was wir getan haben, und dem, was getan werden muss, liegt nun diese kurze Halbzeit. Darauf möchte ich gerne aufmerksam machen. Tiltes und meine Studien haben enthüllt, dass alle großen Mystiker auf die Halbzeit verwiesen und gesagt haben, dass in ihr die besondere Möglichkeit stecke zu merken, dass Sorgen etwas sind, das man sich selber macht, und es nur einen Ort gibt, wo man seine Ruhe vor ihnen hat, und dieser Ort ist genau hier und jetzt.
Im nächsten Augenblick hat einen der Strom der Gedanken mit sich gerissen, man wird vom Anblick des Kongens Nytorv gepackt, des einsamen, knallroten Doppeldeckers,der Touristen, der Tauben und des schwarzen Lieferwagens, dessen Nummer mit TH beginnt.
Aber dann hat man wieder die Chance, sich an Land zu retten, in die Gegenwart, ins Auto und seine Geschwister um sich zu sehen und sich darüber zu freuen, im Hier und Jetzt zu sein.
In dem Augenblick fängt Aschanti an zu singen. Es ist ganz still, und Worte kann man gar nicht heraushören, aber ich gehe davon aus, dass es sich um einen kleinen Voodoogesang handelt, jedenfalls hoffe ich, dass es keine vertonte Laudatio auf Haiti ist, Haiti als Baby auf dem Wickeltisch der Karibik oder so was, auf jeden Fall erfüllt Aschantis Stimme unser Auto wie eine magische Masse.
Wir versuchen den Refrain mitzusingen, eine Menge Verse, wir lassen den letzten Ton ausklingen – also, man kann vieles über uns sagen, aber nicht, dass wir nicht mit einem Lied auf den Lippen zum Schafott gingen.
Hans legt die Hände aufs Steuerrad. Die Zukunft hat begonnen.
Da beugt sich Tilte nach vorn.
»Wir haben noch eine Stunde«, sagt sie. »Wir hatten zwei abgemacht.«
Keiner von uns erinnert sich, jemals irgendeine Abmachung eingegangen zu sein. Woran wir uns erinnern, ist Tiltes Einwurf: »Zwei Stunden.« Aber es ist nicht leicht, gegen Naturgewalten anzugehen.
»Ich hab noch was zu erledigen«, sagt Tilte. »Wir treffen uns in der Wohnung in der Toldbodgade. In einer Stunde. Danach übernimmt die Polizei.«
Wir befinden uns in leichter Schockstarre. Aber wieder gelingt es uns, uns in das Jetzt hinüberzuretten, in dem esangeblich keine besonderen Sorgen gibt, und wer sich zuerst rettet, ist Hans.
»Aschanti und ich«, sagt er, »werden die Zeit nutzen, um ihre Familie vorzubereiten. Sie ist mit der Delegation aus Haiti angekommen.«
Man kann die Weisheit dieses Projektes erahnen. Papa und Mama aus Port-au-Prince haben sich eingebildet, das Töchterchen gut und reich unter der Haube zu haben, und dann kreuzt sie mit einem zwei Meter großen Sternengucker auf, der arm ist wie eine Kirchenmaus.
Tilte will die Tür aufmachen, ich hüstele diskret.
Alle sehen mich an. Es ist wie im Märchen, mit dem jüngsten Sohn rechnet keiner. Niemand kann sich etwas anderes vorstellen, als dass Klein-Peter mit zur Toldbodgade zurückfährt und, während Hans und seine Auserkorene mit den Schwiegereltern sprechen, die Zeit damit verbringt, nicht im Weg
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