Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
hielten Speere in den Händen, mit denen sie den Weg versperrten. Doch auf ein paar geflüsterte Worte Laurions machten sie bereitwillig Platz.
»Hier beginnt das Reich der Verborgenen Königin«, erklärte der Lios-alf. »Nun ist es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel. Folgt mir.«
Während sie den Stollen hinuntergingen, ließ Gunhild kein Auge von dem alten Erzähler. Als er keine Anstalten machte, mit seiner Geschichte fortzufahren, sondern nur stumm und in sich gekehrt weiterschritt, schwer auf seinen Stab gestützt, fragte sie leise: »Und hat er den Preis bezahlt?«
Als der Alte weitersprach, klang seine Stimme seltsam fremd, wie in Trance:
»Ich weiß, dass ich hing / am windigen Baum
Neun lange Nächte
Vom Ger verwundet, / dem Gott geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, / dem man nicht ansehn kann,
Aus welcher Wurzel er spross.
Sie boten mir / nicht Brot noch Met;
Da neigt’ ich mich nieder,
Nahm Runen auf, / nahm sie ächzend:
Da fiel ich ab zu Erde.«
Ja«, fuhr er fort, »er hat den Preis bezahlt, und Mimirs Mund sagte ihm, was zu tun sei. So bestieg er Yggdrasil; neun Tage und neun Nächte hing er dort am Baum, dem Tode näher als dem Leben. Und als er erkannte, dass niemand ihm helfen würde, da begriff er, und er bäumte sich auf und wurde eins mit dem Universum, und vor seinen Augen erschienen die Runen, die Urformen des Lebens; schreiend begriff er sie, und der Ast des Baumes, an dem er hing, brach, und Ygg fiel zur Erde nieder.
Aus dem Ast des Weltenbaumes schuf er sich einen Speer, und in den Speer ritzte er die Runen ein und färbte sie mit seinem Blut. So gewann er Macht über das Gesetz der Natur und band es an sich, in einem Pakt, den keiner zu brechen vermochte, der unter diesem Gesetz geboren ist.
Dann kehrte er zurück nach Asgard, und alle, die ihn sahen, beugten das Knie vor ihm, und Tyr selbst bot ihm seinen hohen Sitz an. Als Allvater nahm er dort Platz und ließ sie schwören, Asen und Wanen zugleich, beim Speer des Gesetzes. Und als sein Blick über die Versammlung ging, bannte er sie alle mit seinem funkelnden Auge. Denn sein zweites Auge liegt nun in den Tiefen von Mimirs Quell und schaut auf ewig in das Innere der Welt.
Das war der Preis der Weisheit.«
Die Kinder waren verstummt und wagten nicht zu reden. Auch Laurion, der alles mit angehört hatte, wandte sich nicht um. Schweigend gingen sie weiter, während der Weg langsam wieder anstieg. Von ferne kam ein Lichtschimmer; allmählich wurde es hell.
»Ein Auge zu verlieren, das muss schlimm sein«, sagte Gunhild schließlich zu dem alten Mann. »Ich meine, du hast selber ein Auge verloren. Das tut mir Leid. Und ich weiß nicht einmal deinen Namen.«
»Ich habe viele Namen«, antwortete der Graue. »Grimm und Gandalf hat man mich genannt, Heervater und Helmbari und Herr der Raben, Wod und Walvater, Wegtam und Uli; nur ein Name genügte mir nie. Thror hieß ich beim Thing, Thundr und Udr, Ygg mitunter, doch vor allem nennt man mich -«
»Halt!«, rief Laurion. Blendende Helle hüllte sie ein. »Wir sind da. Willkommen in Alfheim, der Stadt der Lios-alfar.«
Hagen brannte innerlich vor Ungeduld. Mîm hatte ihn aufgefordert zu warten. Der Swart-alf selbst war in der Halle des Königs verschwunden. An Hagens Ohr drangen Stimmengemurmel und gedämpfte Geräusche wie das Pochen mächtiger Maschinen.
Das alles interessierte Hagen nicht. Er konnte es nicht erwarten, vor den Herrn der Schwarzalben geführt zu werden und ihn für sich zu gewinnen.
Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Seine Begleiter hinter ihm nahm er überhaupt nicht mehr wahr. Diese schienen dafür von Hagens Nervosität keine Notiz zu nehmen. Mit regungslosen Mienen erfüllten sie ihre Aufgabe, den Fremdling zu bewachen.
Schließlich kehrte Mîm wieder zurück. Sein breites Gesicht wirkte angespannt.
»Er will dich jetzt sehen, Hagen. Sprich nur, wenn du gefragt wirst«, sagte der Schwarzalbe knapp. »Und wenn du ihn ansprichst, nenne ihn ›Meister‹!«
Hagen sah nur kurz in das Gesicht des noch recht jung wirkenden Swart-alf, dessen Alter er aber nicht zu schätzen wagte.
»Ihr könnt gehen«, sagte dieser zu den Bewachern. »Du«, dabei deutete er auf Hagen, »folgst mir.«
Der Junge folgte Mîm in die Halle. Der Swart-alf hatte breite Schultern, die ihn sehr wuchtig erscheinen ließen. Doch Hagen hatte keinen Blick für die trotz der untersetzten Gestalt geschmeidigen Bewegungen Mîms, dessen Muskeln sich unter
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