Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
Ostseite, gegenüber der Rotunde«, erwiderte Mr Burton. »Direkt gegenüber dem Hauptaltar. Die Griechen nennen ihn Katholikon, glaube ich. Er ist nicht zu übersehen. Er sieht aus wie eine große Pastete mit einer vorzüglichen Bäckerkruste. Oder vielleicht wie eine Gartenamphore. Der Omphalos-Stein von Delphi sieht völlig anders aus. Eher wie eine Mine aus dem Ersten Weltkrieg. Und völlig nutzlos zum Kommunizieren mit – nun, mit was auch immer Sie kommunizieren wollen. Dem Universum, nehme ich an.«
Nimrod holte tief Luft. »Wünschen Sie mir Glück«, sagte er und senkte den Kopf.
»Viel Glück«, sagte Mr Burton.
Nimrod hob augenblicklich ab. In seinem Alter hatte er so viele körperlose Erfahrungen hinter sich, dass sie ihm zur zweiten Natur geworden waren. Wie ein Geist schwebte er über dem rot-weiß-schwarzen Marmorboden zum Hochaltar. Dort, vor einem großen runden Messingtisch, der mit Hunderten brennender Kerzen bedeckt war, stand der Omphalos. Mr Burton hatte recht. Er war tatsächlich unverwechselbar und sah wirklich wie eine Gartenamphore aus, allerdings ohne Platz für Erde oder Blumen, denn die Amphore hatte innen einen konvexen Boden mit einem Loch darin.
Unsichtbar schlüpfte Nimrod durch das Loch ins Innere des Omphalos, der wie eine Dschinnlampe viel, viel größer war, als man von außen hätte erwarten können. Nimrod schwebte eine Weile herum, um sich zu orientieren. Schließlich ließ er sich im Schneidersitz nieder, soweit das angesichts der Tatsache, dass Nimrod keine Beine hatte, möglich war, und versuchte sich den uralten Kräften zu überlassen, die dort einmal gewaltet hatten.
Es fühlte sich einsam an, im Omphalos zu sitzen. Zeit und Raum hatten keine Bedeutung. Nach einer Weile – Nimrod wusste nicht, wie lange – hatte er das Gefühl, die Gegenwart von etwas Uraltem zu spüren und wie schrecklich bedeutungslos er selbst war.
»Wie klein ich bin«, flüsterte er. »Und wie wenig ich weiß.«
Das Gefühl völliger Bedeutungslosigkeit und Unwissenheit wurde bald von der Erkenntnis verdrängt, dass er sich tatsächlich im ursprünglichen Omphalos von Delphi befand, der im vierten Jahrhundert von König Theodosius I. von Griechenland nach Jerusalem gebracht worden war. Nimrod wusste nicht, woher diesesWissen kam, aber er wusste es ebenso sicher wie seine eigene Adresse.
Gleichzeitig schien er einige der Orakelsprüche zu hören, die die Priesterin von Delphi einst verkündet hatte. Der Legende nach hatte sie die Luft des Omphalos eingeatmet – und vermutlich noch etwas wesentlich Stärkeres –, ehe sie ihre mit höchster Aufmerksamkeit verfolgten Botschaften kundtat:
MACHE DEINE EIGENE NATUR UND NICHT FREMDEN RAT ZUR RICHTSCHNUR DEINES LEBENS.
DIE LIEBE ZUM GELD UND NICHTS SONST WIRD SPARTAS UNTERGANG.
ERKENNE DICH SELBST UND SEI DIR TREU.
NICHTS IM ÜBERMASS UND ALLES IN MASSEN.
EIN LEBENDIGER HUND IST WAHRLICH BESSER ALS EIN TOTER LÖWE.
TRUNK IST DER FEIND DES LANDES: ER LÄSST DICH MIT DEINEN NACHBARN STREITEN, ER LÄSST DICH AUF DEINEN LEHNSHERRN SCHIESSEN UND VERFEHLEN.
Nimrod lächelte, als er aus einigen dieser Sätze fast Mr Rakshasas’ Stimme herauszuhören meinte. War es möglich, dass die Zeit, die der alte Dschinn im Omphalos verbracht hatte, ihn zu einigen seiner weisen Sprichwörter angeregt hatte?
Ein berauschender Duft wie von Weihrauch erfüllte diedumpfe Luft des Omphalos, und da Nimrod keine Nasenlöcher hatte, durch die er einatmen konnte, fragte er sich, woher er das wusste. Und doch war der Geruch da und wurde immer stärker, bis Nimrod begriff, dass es gar kein Geruch war, sondern eine gewaltige Kraft, älter als das Altertum selbst, die bestrebt schien, sich mit seinem Geist zu verbinden. Nimrod spürte, wie er instinktiv davor zurückwich, und einen Moment lang zersplitterte die Kraft wie ein zerbrochenes Fenster, und Hunderte uralter Stimmen bohrten sich plötzlich in seine Gedanken, als wollten sie ihm Vorwürfe machen für sein Begehren, sich abzugrenzen.
»Schaue nicht auf das, was
du
siehst, und höre nicht auf das, was
du
hörst«, schien er sich selbst zu ermahnen, doch als er versuchte, sich den Stimmen zu überlassen, wurde er für einen kurzen Moment von Angst überwältigt, während sein Verstand versuchte, all die geflüsterten Geräusche aufzunehmen, sodass er aufschrie, weil der Lärm für seine Ohren zu viel war.
Fast im gleichen Augenblick wurde ihm klar, dass er nicht
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