Die Kinder des Dschinn. Entführt ins Reich der Dongxi
verlassen hatte.
Nach einer Weile legte er sich hin, und da ihm nichts anderes einfiel und er ausnahmsweise einmal ganz zufrieden mit sich war, döste er ein.
John schwebte die Treppe hinab und zur Eingangstür hinaus – natürlich ohne sie zu öffnen – und flog quer durch Xianzum Ausstellungsgelände. Wie zuvor hielt er sich etwa drei Meter über dem Boden, um nicht durch einen der zahlreichen Menschen hindurchzuschweben und ihm oder sich selbst einen Schrecken einzujagen.
Jetzt am Tag war die Ausstellungshalle voller Touristen, hauptsächlich Amerikaner, die sich lautstark über die große Zahl der Lehmfiguren in Grube Nummer eins ausließen. John schwebte lautlos über ihre Köpfe, glitt über die Absperrung in die Grube hinab und durch die stummen Reihen der Terrakottakrieger in den hinteren Teil der Grube. Dort hielt er einen Moment inne, vergewisserte sich, dass der Terrakottakrieger, der ihm am nächsten stand, nicht gleich von seinem Sockel herunterkommen und ihn absorbieren würde, und wandte sich dann dem Wandteil zu, in dem Nimrod die Geheimtür entdeckt hatte.
Es war ein Glück, dass er durch Wände und Türen gleiten konnte, denn ihm fiel ein, dass er die chinesischen Worte nicht mehr wusste, mit denen Nimrod den Eingang geöffnet hatte, das »Sesam, öffne dich« aus der Geschichte von Ali Baba. Es war unvorsichtig von ihm gewesen, etwas zu vergessen, das für ihn so wichtig hätte sein können, schalt er sich selbst.
John glitt durch die verborgene Tür in den Tunnel, der sich mehrere Hundert Meter oder länger vor ihm erstreckte. Als Geist brauchte er keine Taschenlampe, weil Geister und Gespenster auch im Dunkeln sehen können. Auch wenn er für das menschliche Auge unsichtbar sein mochte, konnte er sich nicht darauf verlassen, dass ihn dies auch vor den Ifrit schützen würde, jetzt, wo er sich in ihre Falle begeben hatte. Daher schwebte er langsam und vorsichtig durch den Tunnel und hoffte vergeblichdarauf, dass ihm Nimrod und Groanin entgegenkommen würden. Doch der Gang schien leer zu sein. Zumindest war er frei von allem, was man sehen konnte.
Allerdings war er nicht frei von Geräuschen. Im Gegenteil.
Zuerst glaubte John, das hohe, widerhallende Geschrei von Abermillionen Vögel in einer großen Höhle zu hören. Doch als er näher kam und der Lärm immer mehr anschwoll, kamen ihm die Laute eher menschlich als tierisch vor. Wie das Geschrei einer riesigen Kinderschar auf einem Schulhof während der Pause oder einer Freistunde oder wie auch immer es chinesische Kinder nannten, wenn sie unterrichtsfrei hatten. Nur dass dieser gellende Lärm nichts Sorgloses oder Fröhliches an sich hatte. Gar nichts. Es war die laute Stimme der Verzweiflung.
John hatte das Gefühl, als stünden ihm die Haare zu Berge, was sie vermutlich auch getan hätten, wenn er welche gehabt hätte. Überzeugt, sich einem Schreckensort zu nähern, an dem Millionen verlorener Seelen Qualen litten, verlangsamte er sein Tempo. Inzwischen war der Lärm ohrenbetäubend und alles in ihm drängte zur Umkehr. Doch Johns Geist war wie immer voller Mut und Tapferkeit. Er schwebte weiter, auch wenn ihm jetzt schon graute vor dem, was er am Ende des Tunnels erblicken mochte: Menschen, die mit langen, spitzen Stöcken in bodenlose Gruben gestoßen wurden; andere, denen riesige Trompeten ins Gesicht bliesen; Sünder, die bis zum Hals in glühender Lava steckten; rasende Dämonen und vogelköpfige Ungeheuer … Die Hölle von Hieronymus Bosch.
Umso überraschender war es, als er das Ende des Tunnels erreichte, in eine riesige Höhle hinunterblickte und überhaupt nichts sah. Zumindest nicht die Millionen gequälter Seelen, dieer erwartet hatte. Noch irgendwelche Feuergruben. Nur eine riesige grüne Pyramide, die von einem silbernen See umgeben war, um den mehrere Hundert Kriegerteufel patrouillierten – die gleichen lebendigen Terrakottakrieger, von denen er einen im Tempel von Dendur in New York gesehen hatte.
John versuchte den schrecklichen Lärm auszublenden, verließ den Tunnel und schwebte über den unnatürlich wirkenden Silbersee. Dieser schien nicht aus Wasser zu bestehen, denn er besaß keinerlei Tiefe; und wäre nicht hier und da auf der Oberfläche eine leichte Erschütterung und ein Kräuseln zu sehen gewesen, hätte John ihn für gläsern gehalten.
Die Pyramide in der Mitte des Sees war gut und gerne ebenso groß wie die Cheopspyramide in Ägypten. Nur dass diese hier in einem wesentlich besseren Zustand und
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