Die Kinder des Dschinn. Entführt ins Reich der Dongxi
sagte Groanin. »Das ist klar.«
»Ist Faustinas Körper hier in Venedig?«, fragte Finlay.
»Sie liegt oben im Bett«, sagte Nimrod und führte Finlay zum Fahrstuhl. »Wie geht es übrigens deinem Vater?«
»Ach, dem?« Finlay schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht mehr miteinander geredet, seit er mich in einen Falken verwandeln ließ. Wissen Sie noch?«
»Es hat keinen Zweck, sich wegen solcher Dinge gram zu sein«, meinte Nimrod.
»Da haben Sie wohl recht«, sagte Finlay. »Jetzt, wo wir quittsind.« Fröhlich erzählte er von den Ereignissen am John-F.-Kennedy-Flughafen in New York, in deren Verlauf sein Vater als Terrorverdächtiger verhaftet worden war. »Er ist ziemlich aus der Haut gefahren. Vor allem, als er mich gesehen hat.« Finlay kicherte. »Aber ich glaube, irgendwann werden sie ihn schon wieder laufen lassen.«
Nimrod hatte im obersten Stock eine ganze Flucht von Zimmern gemietet, zu der eine eigene Terrasse, ein Tauchbecken, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer und mehrere Schlafzimmer gehörten. Finlay war beeindruckt. »Das ist ja wie in einem Palast«, sagte er.
»Das liegt daran, dass es genau das einmal war«, sagte Nimrod. »Der frühere Palast der Gravellis, einer der reichsten Familien Venedigs. Apropos: Unser Dornröschen ist hier drinnen.«
»Dornröschen?« Finlay klang verwundert.
Nimrod öffnete eine Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören« hing, und führte Finlay in das abgedunkelte Schlafzimmer, in dem sie Faustinas Körper im Scheinschlaf zurückgelassen hatten.
»So wurde sie dort, wo wir sie gefunden haben, von den Leuten genannt«, erklärte Nimrod.
Sobald Finlay sie dort liegen sah – es war das erste Mal, dass er einen richtigen Blick auf Faustina werfen konnte, seit er ihrem Geist in New York begegnet war –, verstand er, warum John so von ihr angetan war. Was wiederum Faustina peinlich war, weil sie seine Gedanken lesen konnte. Und John, weil er nicht gern daran erinnert wurde, wie schnell er sich in sie verknallt hatte. Und weil ihm der Gedanke missfiel, jetzt womöglich einen Rivalen zu haben.
»Sie lag in den Katakomben eines Ortes namens Malpensa in Süditalien«, fügte Nimrod hinzu. »Man hat ihren Körper aus dem Lagerraum von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett gestohlen und sie als mumifizierte Leiche ausgestellt.«
Faustina hielt es nicht länger aus. »Als was?«, rief sie. Ihre Stimme klang seltsam aus Finlays Mund und Groanin wurde ziemlich unheimlich zumute.
»Die Mönche in Malpensa balsamieren die Toten des Ortes schon seit Jahrhunderten ein«, sagte Nimrod. »Und stellen sie dann zur Schau.« Er lächelte trocken. »Du warst eine ziemliche Touristenattraktion, meine Liebe.«
»Sie meinen, ich war mit ein paar Toten in irgendeiner schrecklichen Krypta eingesperrt?«
»Nicht nur ein paar«, sagte Groanin. »Das waren mindestens vier- oder fünfhundert, um genau zu sein. Manche waren nur noch Gerippe, denen schon Hände und Kiefer abfielen. Ein richtiges Horrorkabinett. Madame Tussauds Kammer des Schreckens ist der reinste Kinderspielplatz dagegen. Ich glaube nicht, dass ich so was Gruseliges schon mal gesehen habe. Ein echter Hammer-Horrorfilm, Miss. Wirklich ein echter Hammer-Horrorfilm. Wahrscheinlich werde ich wochenlang Albträume haben.«
Groanin bückte sich und schaltete in bester Absicht das Nachttischlämpchen an, doch der Effekt war leider ganz und gar nicht gut.
Faustina schrie auf und Groanin ließ vor Schreck das Wasserglas fallen, das er gerade in der Hand hielt.
»Meine Haare!«, schrie sie. »Was ist mit meinen Haaren passiert?«
»Wir vermuten, dass sich einige Touristen daran bedient haben«, sagte Philippa. »Mach dir keine Sorgen. Das wächst wieder.«
»Wohl eher Jeanne d’Arc als Dornröschen«, stellte Finlay fest und übernahm für einen Moment die Kontrolle über seine Stimme.
»Sehr witzig«, fauchte Faustina. Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe. »Aber ich bin so blass. Und was ist mit den Schatten unter meinen Augen? Ich sehe aus wie ein Vampir.«
»Was hast du denn gedacht?«, sagte Philippa. »Du hast seit zwölf Jahren kein Tageslicht mehr gesehen. Nach dem, was du durchgemacht hast, wäre wohl jeder ein bisschen blass um die Nase.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, gab Faustina zu.
Mithilfe von Finlays Hand hob Faustina die Bettdecke an, unter der ihr Körper lag, und stieß einen weiteren Schrei aus, woraufhin Groanin auch das zweite Wasserglas fallen ließ,
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