Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon
Nachmittag aber saß Mrs Gaunt nicht mit ihren Freundinnen zusammen, sondern mit einer sehr alten Dame, und sofort vermutete Philippa – allein nach der äußeren Erscheinung der Fremden –, dass sie der Blaue Dschinn sein musste.
Sie trug einen himmelblauen zweiteiligen Anzug, eine dunkelblaue Bluse mit einer großen Schleife und einen blauen Hut auf dem blau getönten, vor Haarspray starren Haar. An den Fingern prangten mehrere Saphirringe, und ihre dazu passenden Ohrringe funkelten im Licht, wenn sie den Kopf bewegte. Sie wirkte ärgerlich, denn offenbar steckte sie mitten in einer Auseinandersetzung mit Mrs Gaunt. Statt die beiden zu begrüßen, blieb Philippa unwillkürlich hinter einer Marmorsäule stehen und lauschte.
»Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte die alte Frau mit eindeutig britischem Akzent. Die entschiedene, völlig emotionslose Stimme ließ Philippa leicht schaudern. Sie fand, dass die Frau mit dem harten Blick in ihren schmalen Augen und demkleinen runzligen Mund eher wie die unheimliche Witwe eines chinesischen Kaisers aussah und nicht wie eine alte Dame aus England. Sie hätte gern länger zugehört, aber Ayesha senkte ihre Stimme fast bis zu einem Flüstern, sodass Philippa nichts mehr verstehen konnte. Sie verließ das Hotel unauffällig, ohne die zwei Frauen begrüßt zu haben. Der Blaue Dschinn, falls sie es denn tatsächlich war, machte einen zu strengen Eindruck, als dass man sie so eben mal im Gespräch unterbrach.
Nach dem Abendessen fragte Philippa ihre Mutter aus. »Ich war heute Nachmittag bei Bull Huxter«, fing sie an. »Dschinnverso spielen.«
»Ach ja? Wie schön.«
»Hinterher kam ich am Hotel Pierre vorbei und habe Alan und Neil da sitzen gesehen. Ich bin reingegangen, weil ich dachte, du würdest dich vielleicht mit einer Freundin zum Tee treffen. Aber du hast dich mit einer blau gekleideten alten Frau unterhalten. Ist die etwa der Blaue Dschinn von Babylon?«
»Ja, meine Liebe. Sie ist wegen des Dschinnverso-Turniers hier. Du hättest sie begrüßen sollen. Sie hätte dich gern kennen gelernt, das weiß ich.«
»Wollte ich ja«, erklärte Philippa. »Aber sie hat irgendwie unheimlich ausgesehen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ihr euch gestritten habt.«
Mrs Gaunt schüttelte den Kopf. »Nein, Kind. Du irrst dich. Wir haben nicht gestritten. Nur, Ayesha ist sehr alt und immer überzeugt, dass sie Recht hat. In ihrer Stellung ist sie es gewohnt, allen Dschinn zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Das kann manchmal den Umgang mit ihr erschweren.Außerdem ist ein Blauer Dschinn sehr einsam. Ayesha kann schnell ungeduldig werden, wenn man ihr widerspricht, das ist alles.«
»Und hast du ihr widersprochen?«
»Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Aber keinen Streit. Nein, das nicht.«
»Aber musst du denn nicht tun, was sie sagt? Wo sie doch schließlich der Blaue Dschinn ist?«
»Wenn es um ihre Entscheidung vor dem Dschinngericht gegangen wäre, dann ja. Aber nicht, wenn es sich um Angelegenheiten der Menschenwelt handelt.«
»Ist das Gericht in Babylon?«
»Früher war es dort. Vor vielen Jahrhunderten. Heute lädt sie die Dschinn vor ihr Gericht in Berlin, was für alle sehr viel bequemer ist. Nur einmal im Jahr erfordert ihre Rolle tatsächlich einen Aufenthalt in Babylon. Es heißt, dass sie dann ihr Herz wieder hart macht für ein ganzes Jahr.«
»Wie soll das denn gehen? Dass man Arterien härten lässt, habe ich schon gehört, aber nicht Herzen.«
Mrs Gaunt seufzte. »Ich kann dir im Moment nur sagen, dass es eben so ist. Denk daran, dass wir Dschinn nicht wie Menschen sind. Wir sehen vielleicht so aus. Besser gesagt,
sie
sehen aus wie wir – von Engeln wollen wir hier gar nicht reden. Aber es gibt große Unterschiede im atomaren Bereich. Und im subatomaren.«
»Und ist sie ganz schrecklich hartherzig?«
»Ja, ganz schrecklich.« Mrs Gaunt lächelte. Philippa fand, es war ein sehr trauriges Lächeln. Und hatte sich ihre Mutter nicht sogar eine Träne aus dem Auge gewischt, als sie aus demZimmer ging? Diese Reaktion verstärkte nur Philippas Eindruck, dass zwischen ihrer Mutter und dem Blauen Dschinn etwas vorgefallen war, das sie nicht erfahren sollte. Etwas Schwerwiegendes. Sie beschloss, die Sache sofort mit John zu besprechen.
Dschinnverso und der Teufelskreis
In der Zwischenzeit hatte John seiner ursprünglichen Absicht, den tyrannischen Gordon Wartenswin in ein Warzenschwein zu verwandeln, tapfer
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