Die Kinder des Ketzers
machte Fabiou. Himmel, klar. Das Haus lag im Grunde in der Carriero de la Jutarié. Er betrachtete Piqueu mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugierde. Er hatte noch nie zuvor mit einem leibhaftigen Juden gesprochen.
«A…aber wieso… ich meine, was haben die Juden mit dem Ar- rêt de Mérindol zu tun?», fragte Fabiou verständnislos – Jesus, die Situation war jetzt irgendwie ganz schön peinlich!
«Junger Mann», seufzte Piqueu, «Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass die Herrschaften, die den Arrêt durchsetzten, sich diese günstige Gelegenheit entgehen ließen, diese Gegend im Allgemeinen und diese Stadt im Besonderen von allem und jedem zu säubern, der ihnen nicht in den Kram passte! Waldenser, Juden, Protestan357
ten, politische Gegner, Menschen mit unliebsamen Ideen und jeder sonst, der diesen Kerlen auf den Geist ging oder ihren politischen Ambitionen im Weg war – wer fragt im allgemeinen Blutrausch noch danach, ob es dieser oder jener wirklich verdient hat, und ein Prozess wegen Ketzerei und Irrglauben, der in ruhigeren Zeiten selbst in Ais ein Skandal wäre, wird in diesem Moment kaum zur Kenntnis genommen. Und wenn das Chaos vorüber ist, spricht man ein paar bedauernde Worte, dass der religiöse Eifer vielleicht auch das eine oder andere unschuldige Opfer gefordert hat, und die Sache ist erledigt!»
Fabiou dachte wieder an das, was Frederi über Jean Maynier gesagt hatte. Er verstand seine Worte langsam immer besser. «Und warum… warum Euer Bruder?», fragte er. Noch während er die Frage aussprach, kam sie ihm plötzlich selber ziemlich unangebracht vor, und er wäre nicht überrascht gewesen, wenn Piqueu ihm das auch deutlich gesagt hätte. Stattdessen grinste der böse und meinte: «Die haben noch nie einen Grund gebraucht, unsereins einen Kopf kürzer zu machen. Das Abschlachten von Juden ist in den letzten Jahren zwar etwas außer Mode gekommen, man hält sich da eher an die Protestanten, aber wenn es sich ergibt, ist die Hinrichtung eines Juden doch immer wieder ein willkommener Zeitvertreib. Schaut mal aus dem Fenster, Senher!» Er wies mit dem Kinn auf das Fenster, das auf die Carriero de la Jutarié hinausging. «Seht Ihr die Straßenkreuzung da? Dort wurde vor so ungefähr achtzig Jahren einem Juden namens Léon Asturg bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, weil er angeblich Lästerungen gegen die Christen und die Jungfrau Maria ausgesprochen hatte
– mit ausdrücklichem Einverständnis von König René, dem guten König René. Warum nennt man ihn eigentlich den guten König René? Das einzige Positive, was man über ihn sagen kann, ist, dass er eine Menge Geld in diese Stadt hier gesteckt hat.»
Na wunderbar, heute ist offensichtlich der Tag der Gruselgeschichten! Als ob die Galaud’schen Annalen noch nicht genug gewesen wären!
Piqueu lachte auf, als er Fabious entsetztes Gesicht sah. «Schlimme Zeiten, nicht wahr? Wobei ich die Behauptung lächerlich finde, der Strafvollzug sei heutzutage auch nur im Geringsten humaner. 358
Ich finde es auf jeden Fall nur unwesentlich weniger grausam, einen Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Nun, was Léon Asturg betrifft, so sind wir mit dieser Geschichte aufgewachsen, meine Geschwister und ich, er war ein Großonkel von uns. Und Mouche hatte zeit seines Lebens eine geladene Arkebuse in dieser Schublade hier liegen, für den Fall des Falles. Er war ein hervorragender Arkebusenschütze, müsst Ihr wissen. Nicht dass ihm das letztlich viel genützt hätte, gegen die Bande von zwanzig bis an die Zähne bewaffneten Söldnern, die hier eindrangen und ihn davonschleiften. Er wurde im Eilverfahren zum Tode verurteilt, warum, weiß ich nicht, dass er Jude war, hat vermutlich gereicht. Und in Anbetracht des Schicksals von Léon Asturg und vieler anderer waren wir eigentlich ganz froh, dass sie ihn bloß gehängt haben.»
Fabiou räusperte sich verlegen. Himmel, es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen. «Das… hm… das tut mir leid, das mit Eurem Bruder», murmelte er kaum hörbar.
«Oh, das braucht Euch nicht leid zu tun… war ja nur ein ketzerischer Jude», sagte Piqueu spöttisch. «Aber lassen wir das. Ihr wolltet mir doch einen stichhaltigen Grund nennen, Euch Einblick in meines Bruders Geschäftsbücher zu gewähren. Bossard zumindest ist kein stichhaltiger Grund.»
«Die Wahrheit!», erklärte Fabiou trotzig. «Es geht mir um die Wahrheit!»
Piqueu lachte schallend. «Jetzt werdet Ihr albern. Die
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