Die Kinder des Ketzers
hatte, ist davon auszugehen, dass es ihr nicht anders erging.»
«Findet Ihr das gerecht?» Fabiou fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Er dachte an Loís.
«Was?» Der Viguié starrte ihn fassungslos an.
«Na, dass man die Weiber und Kinder dieser Räuber getötet hat
– nur weil sie die Weiber und Kinder dieser Räuber waren.»
Der Viguié antwortete nicht gleich. «Gerecht», sagte er schließlich, «ist nur Gott.» Er holte tief Luft und wandte sich um. «Ich 415
werde Euch nach Hause bringen, junger Mann. Für heute Nacht habt Ihr genug Abenteuer erlebt.»
Wieder musste Fabiou an Loís’ Worte denken. Vielleicht fand er es einfach ritterlich. «Viguié?»
«Ja?»
«Sagt Euch der Name Carfadrael etwas?»
Langsam drehte Crestin den Kopf. «Wie war das?»
Fabiou, der meinte, er habe ihn nicht richtig verstanden, wiederholte laut und deutlich: «Car-fa-dra-el.»
Still stand der Viguié, sein Gesicht so starr wie die Maske, die Fabiou aus dem Dunkeln entgegengesprungen war. «Carfadrael», sagte er, «ist eine Legende.»
«Wie meint Ihr das?», fragte Fabiou verwundert.
«Wie ich es sage. Eine Legende. Wie Clopau, der Waldgeist, der die kleinen Kinder klaut. Wie die graue Muhme, die die ungetauften Seelen hütet. Wie der heilige Gral in der Höhle unter Mont-Segur. Eine Geschichte, wie die Bauern sie sich am Feuer erzählen.»
«Was ist das für eine Geschichte?», fragte Fabiou nachdenklich.
«Oh, die einen sagen, er sei ein Edelmann, der in seinem öffentlichen Leben ein unauffälliges, beschauliches Leben führt, aber des Nachts maskiert mit seinen Getreuen durch die Lande reitet, um den Armen zu helfen, die Verfolgten zu beschützen und Unrecht wiedergutzumachen. Die anderen halten ihn für einen Kreuzritter, der im Kampf gegen die Mauren oder einen bösen Drachen gefallen ist und dessen Geist weiter getreu seinem Schwur, das Böse zu bekämpfen, durch die Lande reitet. Geschichten, wie sie Bauern und Leibeigene eben erfinden, um die Hoffnungslosigkeit ihres Lebens zu überspielen.» Crestin zuckte betont gleichgültig mit den Achseln.
«Und Ihr denkt nicht, dass diese Legende auch einen wahren Kern haben könnte?», fragte Fabiou.
Crestin lächelte müde. «Ihr seid jung. Da glaubt man noch an den Sieg der Gerechtigkeit und ist gewillt, romaneske Geschichten über maskierte Ritter im Kampf gegen das Böse für bare Münze zu nehmen. Aber ich sage Euch, ich habe noch keinen ernst zu nehmenden Hinweis darauf gefunden, dass diese Geschichten von Carfadrael und der geheimen Bruderschaft mehr sind als ein schö416
nes Märchen. Kommt jetzt, Senher Bèufort, ich bringe Euch nach Hause.»
Die Bruderschaft…
Vivat sodalitas et in aeternum amicitia nostra…
Er folgte Crestin, der in Gastou Austeliés Zimmer trat und Laballefraou herbeiwinkte. «Ich bringe den Jungen heim. Fragt die übrigen Dienstboten, ob sie noch irgendetwas Verdächtiges bemerkt haben. Ich bin gleich zurück.»
Laballefraou starrte kopfschüttelnd auf die blutige Schrift an der Wand. «Irgendwie ist das doch krank, oder?», meinte er. «Haben die das immer so gemacht, die Antonius-Jünger? Ich meine, Ihr wart doch damals mit an der Verfolgung beteiligt… haben die immer so eklig… mit Blut, meine ich…» Er brach ab, als er den vernichtenden Blick seines Vorgesetzten bemerkte. Zu spät. Fabiou hatte bereits sämtliche Ohren gespitzt. «Ehrlich, Ihr wart mit dabei, damals?», rief er aufgeregt. Danke, Laballefraou, hervorragend gemacht, sagte der wütende Blick des Viguiés. Laballefraou schnitt eine entschuldigende Grimasse. «Ja, ich war dabei, als junger Arquié, in Ordnung? Können wir jetzt gehen?»
Im Grunde war Fabiou ziemlich dankbar um Crestins Begleitung, als sie wenige Minuten später die Carriero drecho hinauf Richtung Sant Sauvaire liefen, man wusste nie, wo gewisse Leute mit kahlen Köpfen oder weißen Masken sich gerade herumtrieben.
«Wie war das jetzt, mit der Schrift?», fragte er neugierig, komplett die offensichtliche Tatsache ignorierend, dass der Viguié nicht im geringsten an einer Fortsetzung der Unterhaltung interessiert zu sein schien. «Haben die Antonius-Jünger ihr ‹Santonou› immer mit Blut geschrieben?»
«Nur bei den Vergehen, bei denen auch Blut geflossen ist», seufzte der Viguié genervt. «Sonst haben sie sich weniger blutrünstiger Farbstoffe bedient.»
«Kohle zum Beispiel?»
«Zum Beispiel.»
«Und wie haben sie im Normalfall geschrieben? So wie heute, oder eher
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