Die Kinder des Ketzers
Stimme hervor:
«Guten Abend, Jousé. Kennst du mich denn nicht mehr?»
Die Kerze rutschte in Bruder Antonius’ Hand, jagte Schatten wie brüllende Ungeheuer über die Wand. Nein, dachte Bruder Antonius, nein, Herr Jesus und Maria, nein! Es gibt keine Geister!
Es war die Stimme eines Toten.
Ein Lachen drang durch die hölzernen Lippen. «Jousé, was ist
– habe ich dich etwa erschreckt?»
Die Augen des Herrn blicken auf die Gerechten. Er kann es nicht sein. Dieselbe Stimme, ja, aber etwas ist anders. Der Akzent
– er hat nicht diesen furchtbaren Akzent!
«Wer… bist du?», krächzte er. Durch die Angst machte sich ein Anflug von Scham bemerkbar. War sein Glaube so schwach, dass eine Stimme ausreichte, ihn in Panik zu versetzten?
Wieder das Lachen, spöttisch, kalt. «Erinnerst du dich wirklich nicht an mich, Joujou?», fragte die Stimme.
Er versuchte zu begreifen, versuchte die Sperre in seinem Inneren zu durchbrechen, die sich mit der Macht eines Bollwerks gegen die Erkenntnis stemmte, und gegen die Erinnerungen, die heranzufluten begannen wie eine Sturmwelle. Joujou. In seinem Leben hatte es nur einen einzigen Menschen gegeben, der ihn so genannt hatte. «J… Janot? D… du?»
«Überrascht dich das?» Ein Kichern hinter der Maske.
«Ich…» Ich habe gefürchtet, dass du es bist. Vom ersten Augenblick an. «Ich habe so lange nichts mehr von dir gehört… ich wusste ja nicht mal, dass du noch am Leben bist…» Der letzte Moment, ein kleiner Junge, den irgendein Kriegsknecht wegschleifte, Joujou, kreischte er, Joujou, und er hatte nicht gewagt, auch nur die Hand nach ihm auszustrecken aus Angst vor den Konsequenzen. Es war eines der Bilder, die nicht aufhören wollten, durch seine Träume zu geistern. «Wie… wie hast du mich gefunden?»
«Oh, das war nicht so schwer.» Wieder dieses Kichern. Es hatte etwas Zynisches, Gefühlloses an sich. «Es gab eigentlich nur zwei 420
Orte, wo du sein konntest: in einem Kloster oder auf dem Schindacker von Ate.»
«Wo… warst du die ganzen Jahre?» Bruder Antonius trat näher. Er wünschte, der andere würde die Maske abnehmen. Er wünschte, ihm in die Augen sehen zu können.
«Ach, mal hier, mal da, im Himmel, im Fegefeuer… wichtiger ist, dass ich jetzt hier bin!» Ein Funkeln drang durch die Schlitze der Maske. «Jetzt, wo die Zeit gekommen ist!»
«Die… Zeit? Welche Zeit?», fragte Bruder Antonius.
«Die Zeit der Vergeltung», sagte der andere.
Bruder Antonius rang nach Luft. «Warst du es? Hast du diese Morde begangen?», fragte er.
«Glaubst du denn, dass ich es war?» Die Stimme hinter der Maske klang heiter.
«Ich… ich weiß nicht…»
«Qui bono, richtig, Jousé, das ist doch die Frage bei jedem Verbrechen. Qui bono, wem nützt es. Ich bin unglaublich verdächtig, nicht wahr?»
«Ich will nicht wissen, ob du verdächtig bist, ich will wissen, ob du es getan hast!», sagte Bruder Antonius fest.
«Wieso? Stört dich der Gedanke, ich könnte einen Mord begangen haben?», fragte der andere spöttisch.
«Mich stört der Gedanke, dich eines Tages an einem Galgen baumeln zu sehen», stieß Bruder Antonius hervor.
«Wieso denn? Das ist in unserer Familie die natürlichste Todesursache.» Er schlug die Beine übereinander. «Glaubst du an die Gerechtigkeit Gottes, Jousé?»
«Wie?»
«Ich weiß, du bist ein Mann der Kirche, ein Diener Gottes, du tust den lieben langen Tag nichts anderes als an Gott und Jesus und die Sakramente zu glauben. Aber glaubst du an die Gerechtigkeit Gottes?»
«Natürlich», sagte Bruder Antonius langsam. «Gott wird die belohnen, die Gutes getan haben, und die bestrafen, die sich versündigt…»
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«Das meine ich nicht, Jousé», fiel ihm der andere ins Wort. «Ich spreche nicht von einer jenseitigen Gerechtigkeit. Ich spreche von Gerechtigkeit hier, in dieser Welt.»
«Wir dürfen nicht an Gottes Wegen zweifeln, nur weil sie uns nicht begreiflich sind», brachte Bruder Antonius heraus. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Neben dem Tabernakel brannte die Sonne von Ate.
«Oh, ich zweifle doch gar nicht. Ganz im Gegenteil. Ich glaube daran, dass Gott gerecht ist. Vielleicht zeigt er es nicht immer sofort. Aber er hat ein langes Gedächtnis, ein sehr langes.» Er lehnte sich zurück, die Schlitze in der Maske waren auf die Decke gerichtet. «Und manchmal, Jousé», sagte er verträumt, «wenn die wirklich schrecklichen Dinge auf dieser Welt geschehen, die Dinge, die sogar die Engel weinen
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