Die Kinder des Ketzers
lassen, dann kommt der Tag, an dem Gott die Gerechtigkeit wiederherstellen wird. Vielleicht kommt er nicht heute, vielleicht erst nach fünf, nach zehn, nach fünfzehn Jahren, aber er kommt, so sicher, wie auf die Nacht ein Morgen folgt. Und wenn es soweit ist, Jousé, dann wird er sich einen Menschen aussuchen und ihn zum Werkzeug seiner Gerechtigkeit machen.»
«Ach – und du glaubst, dieser Mensch zu sein, oder was? Du bist anmaßend, Janot!»
«Wer spricht denn von mir?» Hinter der Maske lachte es versonnen. «Der Narr, Joujou, ist nicht in der Welt, um zu richten, sondern um der Menschheit einen Spiegel vorzuhalten.»
Gott, was meint er damit? Was meint er mit all dem? «Wer dann?
Himmel, von wem sprichst du?»
«Carfadrael. Er ist zurückgekehrt», sagte der Mann mit der Maske.
Bruder Antonius drückte seine Hand gegen die Augen. Die Kapelle drehte sich langsam. Carfadrael… ich kenne keinen Carfadrael… oh Gott… «Carfadrael… ist tot!», stieß er hervor.
«Er ist tot, natürlich», erklärte der andere. In seiner Stimme vibrierte das Lächeln. «Aber er hat einen Nachkommen hinterlassen, Jousé, einen Nachkommen, der sich auf die Spur der Mörder von damals begeben hat. Trostett hat ihn auf die Spur gebracht. Und ich werde ihm dabei helfen, sie weiter zu verfolgen. Bis zum bit422
teren Ende. Es wird Gerechtigkeit geschehen, Jousé, verlass dich darauf!»
Bruder Antonius starrte ihn an. «Du bist ja verrückt», murmelte er kopfschüttelnd.
«Ich bin verrückt. Natürlich bin ich verrückt, Jousé. Wer wäre es nicht an meiner Stelle? Ich war acht Jahre alt, als sie meine Familie getötet haben. Meiner Mutter hat einer den Bauch aufgeschlitzt, und ich bin neben ihr gesessen und habe zugesehen, wie sie verblutet ist. Ich war in Ate, Jousé. Ich war dort, auf dem Richtplatz, als sie starben; ich habe alles gesehen, Jousé, aus nächster Nähe. Mein Vater hat meinen Onkel auf das Schafott tragen müssen, weil er schlichtweg keinen heilen Knochen mehr im Leib hatte. Mein Vater…» Die Stimme brach mit einem seltsamen Laut ab. Starr lächelten die hölzernen Lippen. Er sprach weiter. «Mein Vater ist über sechzehn endlose Stunden hinweg gestorben, und ich stand die ganze Zeit daneben und habe zugesehen, wie die Hunde das Blut aufleckten, das durch die Bohlen des Schafotts tropfte. Ich habe mit den anderen Kindern gespielt, während mein Vater starb, um nicht aufzufallen, um meinem Vater wenigstens zu ersparen, meine Verhaftung mit ansehen zu müssen.» Er lachte leise auf.
«Und du wunderst dich, dass ich verrückt bin?»
Bruder Antonius kämpfte gegen einen heftigen Würgereiz an. Monströs bäumten sich die Schatten an den Wänden. «Janot, wir müssen lernen zu vergeben», flüsterte er.
«Vergeben!», zischte es aus dem hölzernen Mund. «Vergeben, während die, die an allem schuld sind, frei herumlaufen und die Früchte ihrer Untaten genießen! Gott, Jousé, es waren doch nicht nur wir! Diese Leute haben Tausende unschuldiger Menschen ihrer puren Gier und ihrem Ehrgeiz geopfert!»
«Wie… meinst du das?»
«Denk mal logisch nach, das müsstest du doch können, du hast doch eine scholastische Bildung! Du glaubst doch nicht, dass das alles ein Zufall war, diese Ereignisse, zu diesem Zeitpunkt! Es war ein großangelegter Plan, von der ersten bis zur letzten Minute. Und weißt du, was das Schrecklichste daran ist? – Alles, was uns zugestoßen ist, hatte nur einen einzigen Sinn – von dem eigentlichen Verbrechen abzulenken. Eine gigantische, grausige Finte, mehr 423
war das alles nicht.» Er lachte wieder. Ein Geisterlachen. «Und du sprichst von Vergebung! Sag mir die Wahrheit, Jousé, frommer Bruder – hast du vergeben? Oder gibt es auch für dich Momente, wo du dir wünschst, einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick lang, sie etwas von der Angst spüren zu lassen, die du hast erleiden müssen? Denk nach, Jousé, denk an Ate – kannst du das wirklich vergeben?»
Die Schatten drehten sich, ein geisterhaftes Kaleidoskop, hör auf, wollte Bruder Antonius schreien, hör auf damit, ich kann das nicht ertragen!, doch seine Stimme war abgewürgt, wehrlos starrte er auf die Monster der Vergangenheit, die sich kichernd aus den Ecken erhoben, und wieder lachte die Gestalt mit der Maske ihr grausames, kaltes Lachen und sagte: «Gib es auf, Jousé, es hat keinen Sinn. Du kannst nicht vergessen, genauso wenig wie ich. Ate ist in unsere Seelen eingebrannt für immer.» Er seufzte tief.
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