Die Kinder des Ketzers
St. Roque eingetrichtert? Du hast doch keine Ahnung, wie alt warst du damals, achtzehn? Die haben doch jeden aufgehängt, der ihnen nicht ins Stadtbild gepasst hat, und zwar ohne jede Gerichtsverhandlung. Ohne jede Gerichtsverhandlung, das muss man sich mal vorstellen! Bossard, verflucht! Der Kerl war nicht nur eine Schande für den provenzalischen Adel, sondern genauso für den katholischen Glauben!»
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Der Alence fuhr fort, die Stirn zu runzeln. «Nun, der Estrave hielt aber große Stücke auf ihn! Und der ist schließlich einer aus dem engsten Kreis um Carcès!»
«Na, Gott sei Dank hat Carcès nicht nur Schwachköpfe wie den Estrave unter seinen Anhängern, sonst würde er mir echt leid tun!», schnaubte der Buous.
«Hm…», machte Fabiou nachdenklich. «Dieser Carcès – was ist das eigentlich für einer?»
«Carcès?» Der Buous lachte auf. «Das weißt du nicht?»
«Hm, nein. Warum? Ist das schlimm?»
«Der Carcès…» Ein seltsames Glühen war in Bonieus’ Augen getreten. «Der Carcès ist eine Legende!»
Fabiou horchte auf. Eine Legende. Wie Carfadrael.
«Die Geschichte!», rief der Artou begeistert, aufgetaucht aus seinem seligen Dusel. «Das hat er gesagt, der Piqueu. Über die Verbrechen, die heute begangen werden, wird die Geschichte richten!
Genau das hat er gesagt!»
Fabiou hätte die Sache mit dem unglückseligen Mouche Piqueu gerne ebenso weiterverfolgt wie die Geschichte um den Carcès, aber das war der Moment, in dem der Haushofmeister dem Senher d’Astain zuflüsterte, die erwarteten Gäste seien jetzt vollzählig und man könne mit der Jagd beginnen.
Augenblicklich verbreitete sich Hektik auf der Wiese. Die Herren schwangen sich in ihre Sättel, die Damen erklommen mit Hilfe der Diener die ihren, die Hunde wurden zusammengeholt, die Treiber stellten sich in Position. Die Kutsche der Castelblancs zuckelte mit Madaleno, Eusebia, Theodosius und den Kleidern beladen im Gefolge einiger anderer dem Landsitz der Astain zu; den Damen war die Jagd zu anstrengend und Theodosius war nach Ansicht seiner Mutter und zur Begeisterung seiner Vettern und Basen noch zu zart für derartige Unternehmungen. Loís und sein Bruder Jacque blieben bei der Jagdgesellschaft, um ihren Herren und Herrinnen die Pferde zu halten und ihnen in allerlei anderer Hinsicht dienlich zu sein. Bardou warf einen erneuten besorgten Blick zum Himmel, bevor er die Kutsche auf den Weg zurücklenkte. In der Ferne war ein anthrazitgrauer Streifen am Horizont hinter Ais erschienen. 437
Die Jagd begann. Man hatte sich große Mühe gegeben, alle Bedingungen einer Chasse royal , einer Treibjagd zu erfüllen, die Büsche wimmelten nur so von Dienern und Bauern, die mit Ratschen und Schellen und was sich sonst so alles zum Krach machen eignete bewaffnet waren. Die Hunde wurden von der Leine gelassen, die Treiber schwärmten aus, um den Herrschaften das Wild vor die Armbrust oder die Arkebuse zu treiben. Frederi drängte sich an die Seite seiner Stieftöchter und murmelte: «Ihr bleibt in meiner Nähe, verstanden? So eine Jagd ist nicht ungefährlich!»
Frederi Jùli visierte fachmännisch über den Schaft seiner Armbrust hinweg und machte «Psiu, psiu!», dass es seinem Gaul ganz angst und bange wurde. Der junge Degrelho philosophierte über die gute alte Zeit, als man noch wie weiland Herkules mit Pfeil und Bogen zur Jagd geritten war – er besaß offensichtlich humanistische Bildung –, was Fabiou zu der Bemerkung veranlasste, dafür hätte man heutzutage nicht mehr ganz so viel Ärger mit Zentauren und Harpyen und ähnlichem Viehzeug. Victor Degrelho fand diese Aussage offensichtlich extrem originell, er lachte, bis er beinahe vom Pferd fiel.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten merkte man schnell, wer sich auf die Jagd verstand, wer nur ehrgeizig war und wer einfach zum Vergnügen, zum Sehen und Gesehenwerden mitritt. Letzteres galt für die überwiegende Zahl der Damen, die kreischend und lachend zurückfielen, nachdem ihr Pferd das erste Mal gestrauchelt war oder vor einem Hindernis gescheut hatte, und sich von einigen galanten Herren umsorgen ließen, deren Interesse auch erst in zweiter Linie der Jagd galt. Erstere Gruppe, die im Übrigen gerade mal aus einem knappen Dutzend Edelleuten bestand, darunter Alexandre de Mergoult, Sébastien de Trévigny, Arnac de Couvencour und zu Fabious Überraschung Nicolas de Bouliers, zog ziemlich schnell davon und erlegte im Vorbeifliegen eine nicht zu vernachlässigende Zahl von
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