Die Kinder des Ketzers
ruft weiter nach Euren Eltern? Den Eltern des kleinen Mädchens?»
«N…nein. Ich rufe nach… nach Louise.»
«Louise?»
«Agnes’ Schwester. Sie ist auch von dem Kindermädchen ermordet worden.»
«Ihr ruft also nach Louise. Und kommt Louise?»
«Nein. Ja. Ich weiß nicht. Ich wache dann immer auf.»
«Euer ganzer Traum ist also ein Schrei, ja. Ein Schrei nach Hilfe», stellte die Alte fest. «Oh ja, Agnes braucht Euch!»
Cristino betrachtete sie betreten. «Aber… aber wie sollte ich Agnes denn helfen?»
Die Alte schüttelte langsam den Kopf. «Jeder Geist hat einen Grund, dass er keine Ruhe findet. Auch Agnes. Ihr müsst den 517
Grund herausfinden. Dann könnt Ihr ihr helfen, und dann wird sie von Euch ablassen, jaja.»
«Man kann sie also nicht einfach… vertreiben?», fragte Cristino.
«Vertreiben! Ihr seid grausam, Kindchen! Arme kleine Agnes, die zu Euch kommt, weil sie Frieden sucht, und Ihr wollt sie vertreiben!»
Cristino stand der Mund offen. Bisher hatte sie nicht einmal daran gedacht, wie es Agnes vielleicht bei alledem gehen möge. «Warum… warum hat sie sich ausgerechnet mich ausgesucht?», fragte sie verstört.
«Heilende Kräfte in Euch. Sie hat es gespürt. So wie ich», sagte die Alte lächelnd.
«Ja, aber… was mache ich denn jetzt? Ich meine, wie soll ich denn herausfinden, was Agnes keine Ruhe finden lässt.»
«Vielleicht indem Ihr den Traum zu Ende träumt», meinte die Alte.
Cristino wurde bleich. «Nein», flüsterte sie.
«Warum nein? Es geht, jaja, sicher geht es. Ihr sagt, Ihr träumt den Traum immer ein Stückchen weiter. Ihr spürt selbst, dass die Lösung an seinem Ende liegt, doch noch wehrt Ihr Euch dagegen, das Ende zu sehen. Warum wehrt Ihr Euch?»
«Warum? Warum wohl!», krächzte Cristino. «Das Ende… oh Gott, ich will doch nicht träumen, wie ich erwürgt werde! Wie ich sterbe!»
«Habt Ihr Angst zu sterben?», fragte die Alte interessiert.
«Ja… nein… ich weiß nicht… oh, Jesus, ich kann das nicht!»
Cristino japste nach Luft. «Gibt es… gibt es keinen anderen Weg?», stotterte sie. «Kennt das… das Tarot denn nicht die Antwort?»
«Das Tarot…» Die Alte blickte nachdenklich zur Decke empor.
«Das Tarot ist nicht, was dieser junge Scharlatan Euch glauben machen wollte, oh nein. Keine einfache Antwort auf komplizierte Frage. Das Tarot kann Euch vielleicht einen Weg zeigen. Aber gehen müsst Ihr ihn selber, oh ja, Kindchen.»
«Aber du hast doch gesagt, das Tarot könnte mir helfen!», insistierte Cristino. Die Alte seufzte und griff hinter sich ins Regal, wo ein Packen Karten lag. «Das Tarot wird helfen. Aber ob das bedeutet, dass es 518
Euch etwas über Agnes Degrelho verrät? – Hier.» Sie drückte Cristino die Karten in die Hand. «Mischt sie.»
«Mischen?»
«Ja, mischen.»
Cristino betrachtete die Alte einen Moment ratlos, doch da die sich weiterer Erklärungen enthielt, legte sie die Karten verdeckt auf den Tisch und rührte darin herum wie Suso im Eintopf. Die Alte beobachtete sie lächelnd. «Mischt so lange, wie Ihr wollt», sagte sie.
«Dann legt die Karten wieder auf einen Stapel, ja.»
Cristino tat, wie ihr geheißen, und die Alte nahm den Stapel und warf in rascher Folge zehn verdeckte Karten aus. Die ersten zwei legte sie übereinander, so dass sie ein Kreuz bildeten. Dann legte sie eine Karte darüber, eine darunter, eine links und eine rechts des Kreuzes, so dass ein zweites, größeres Kreuz entstand. Die verbliebenen vier Karten legte sie in einer senkrechten Reihe daneben. Sie seufzte und wischte sich eine verblichene Haarsträhne aus der Stirn, um sie unter ihrem Kopftuch festzustecken.
«Die erste», sagte sie und wies auf die quer liegende Karte. «Steht für die Frage, die Euch beschäftigt.»
«Also für Agnes Degrelho», ergänzte Cristino.
«Das habe ich nicht gesagt», murmelte die Alte und drehte die Karte herum. Ein Kranz, aus goldenen Blumen gewoben, darin ein Mensch, unbekleidet, halb Frau, halb Mann, zur Linken der Mond, zur Rechten die Sonne unter den erhobenen Händen. Und ringsum, den Kapitellen eines Chores entnommen, im Kreis die vier Evangelisten: der Adler, der Löwe, der Engel und der Stier. LE MONDE stand am unteren Rand der Karte. «Der Erdkreis», sagte die Alte.
«Was hat das mit Agnes Degrelho zu tun?», fragte Cristino erstaunt.
«Nichts. Gar nichts, wie ich erwartet hatte, hihi.» Die Alte lächelte stillvergnügt. «Agnes Degrelho ist nicht der eigentliche schwarze Fleck
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