Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
Vom Netzwerk:
in Eurer Seele. Ein anderes Problem, ganz anders, beschäftigt Euch.»
    «Unsinn!», erklärte Cristino vehement.
    519
    «Der Erdkreis», erklärte die Alte, «steht für eine Reise. Eine wirkliche, oder eine innere Reise. Seid Ihr auf einer Reise, mein Kind? Auf der Reise zu Euch selbst?»
    Cristino betrachtete sie beklommen. «Wie meint Ihr das?»
    «Ihr seid in dem Alter, wo man die Kinderschuhe auszieht und den Schritt ins Leben wagt. Das Alter, wo der Mensch sich selbst suchen und finden muss. Schwere Suche, lange Suche. Vielleicht ist das ja Agnes Degrelho: der Mensch, den Ihr am Ende Eurer Suche in Euch selbst finden werdet.» Sie lächelte. Tausend Fältchen ringelten sich in ihrem Gesicht. Cristino starrte unruhig auf die Karte. «Was… was ist mit der nächsten Karte?», fragte sie unwirsch.
    «Die zweite steht für die Hindernisse auf Eurem Weg. Dreht sie um.»
    Ein Mann, in einem langen, sakral wirkenden Mantel, eine Hand schwebend über seinem Kopf, hervorgetreten aus den Wolken, die Hand Gottes. «Der Hierophant», erklärte die Alte. «Seltsam, das. Jawohl, seltsam.» Sie wirkte jetzt ehrlich fasziniert.
    «Wer ist das? Der Papst?», fragte Cristino.
    «So ähnlich. Der Hierophant steht für die Kirche oder die Autorität.… aber nein, die Kirche kann nicht gemeint sein. Also eine andere Autorität. Die Gesetze, die Regeln der Gesellschaft. Verbietet man Euch das, was Ihr gerne tun würdet?»
    Cristino dachte an Frederis ewiges Genörgel. «Na ja, mein Stiefvater…»
    «Euer Stiefvater? Ist es wirklich er, der Euch im Weg ist? Euch hindert, der zu sein, der Ihr gerne wäret? Oder doch jemand anderes? Eure Mutter? Eure gesamte Familie? Die Welt an sich? Na?»
    Cristino spürte, wie ihr Mund trocken wurde. «Ich weiß nicht…
    ich müsste darüber nachdenken…»
    «Ja, das müsst Ihr.» Die Alte nickte. Ihre Augen lächelten dabei.
    «Das müsst Ihr allerdings.» Sie wies auf die Karte, die den oberen Punkt des großen Kreuzes bildete. «Die dritte und die vierte.» Sie wies auf den unteren Punkt. «Die Drei steht für das Bewusste, die Vier für das Unbewusste. Dreht sie um.»
    Cristino wendete die Karten. Oben ein schwarzer schauriger Geselle, der Kopf eines Ziegenbockes mit brennenden Hörnern, 520
    die Flügel eines Greifvogels, doch der Körper eines Menschen, ein Drudenfuß auf seiner Stirn und ein schlagendes Herz in seinem Schoß. Unten ein Mann und eine Frau, unbekleidet wie Adam und Eva, an einem Kreuzweg stehend, sich die Hand reichend über einer sprudelnden Quelle. Die Alte lachte. «Das passt. Der Teufel. Jaja. Das ist es, was Euch bewusst ist. Der Teufel»
    «D…der T…teufel?»
    «Er steht für das Böse, für Intrigen, böse Machenschaften, Blendwerk, schwarze Künste. Oh ja, das denkt Ihr, nicht wahr, dass Ihr von einem bösen Fluch befallen seid, besessen von einem bösen Geist, der Euch Schlimmes will. Das ist es, was Eure Gedanken beschäftigt. Doch wenn man den Grünspan von der Oberfläche kratzt, wenn man in die Tiefe sieht, in die Abgründe Eurer Seele, dann ist es etwas anderes, was Euch in Angst und Schrecken versetzt. Die Liebenden, hihi, die Liebenden!»
    Oh, Jesus, das Weib weiß offensichtlich Bescheid über Alexandre de Mergoult und den verunglückten Kuss im Wald. Das kommt davon, wenn man sich mit Hexen einlässt!
    Die Alte kicherte. «Jetzt denkt Ihr an einen jungen Mann, nicht wahr? Ihr denkt, oh weh, die Alte redet von meinem Schatz. Aber nein, Kindchen, hat nichts mit dem hübschen jungen Mann zu tun. Die Liebenden, das bedeutet, sich treffen und sich trennen, zueinander finden und einander verlieren. Habt Ihr jemanden verloren, den Ihr nun sucht, ist es das, was Euch in der Tiefe Eurer Seele bedrückt?»
    Verloren…
    Ja, genau so fühlte sie sich. Wie jemand, der alles verloren hat, was er liebt.
    «Agnes», sagte sie. «Es ist Agnes, die ihre Familie verloren hat. Deswegen fühle ich mich so. Es sind ihre Gefühle, nicht meine. Ich habe noch nie jemanden verloren. Bis auf… meinen Vater. Aber ich erinnere mich nicht mehr an ihn. Ich war erst drei, als er gestorben ist.»
    «Agnes», murmelte die Alte. «Immer wieder Agnes. Denkt nach, ob es wirklich nur ihre Gefühle sind, mein Kind, oder doch die Euren. Denkt nach.» Sie hatte die Augen halb geschlossen. «Die Fünf und die Sechs jetzt. Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangen521
    heit zuerst.» Sie drehte die Karte um, die die linke Extremität des Kreuzes bildete. Eine ähnliche Karte hatte Cristino

Weitere Kostenlose Bücher