Die Kinder des Ketzers
heute schon gesehen. Ein von Blitzen zerrissener, Feuer speiender, zerplatzender und zerspringender Turm, gleichgültig mit LA TOUR beschriftet.
«Der Turm», murmelte die Alte. «Extreme Geschehnisse, extreme Veränderungen.» Ihre dunklen Augen suchten Cristinos Blick. «Etwas liegt in Eurer Vergangenheit, Kind, das Euch bis heute nicht losgelassen hat. Jaja. Ein schlimmes Geschehen, ein schreckliches Geschehen. Feuer und Blut, möchte man meinen. Das ist es, was jetzt die Geister herbeiruft.»
«Ein schreckliches Geschehen? Aber ich habe nichts schreckliches erlebt!», rief Cristino. «Außer eben, dass mein Vater gestorben ist. Aber da war ich doch noch so klein.»
Die Alte wiegte nachdenklich ihr Haupt. Ihre Augen kullerten hin und her dabei, als hätten sie keinen Halt in ihrem Schädel.
«Geht in Euch, Kindchen, ja. War wirklich nichts Schlimmes in Eurer Vergangenheit?»
Cristino tippte auf die rechte Karte. «Die Zukunft interessiert mich wesentlich mehr», meinte sie. «Darf ich?»
Die Alte nickte. Cristino drehte die Karte um. Und begann zu zittern.
Ein Gerippe, reitend auf einem schwarzen Keiler, gehüllt in einen schwarzen Mantel, mit seltsamen weißen Zeichen versehen, in der Hand die Sense, Schwerter, Kronen und Handwerkszeug verschwindend unter den Hufen des rasenden Tieres. «Oh Gott», wimmerte Cristino.
LA MORT, stand unten auf der Karte.
«Habt keine Angst.» Die Alte hatte die Stirn gerunzelt. «Muss nicht heißen, dass Ihr gleich sterben werdet. Der Tod steht für vieles. Für das Ende, aber auch für den Neuanfang. Muss nichts Schlimmes bedeuten.» Sie war jetzt aber selbst ein bisschen blass geworden. «Nehmt die nächste Karte», sagte sie rasch und wies auf die oberste der vier in Reihe liegenden Karten. «Die Sieben. Sie zeigt Eure geheimen Wünsche an.»
«Ich wünsche mir nur, dass alles gut wird», flüsterte Cristino mit zittriger Stimme und drehte die Karte um.
522
LA FORCE, verriet die Unterschrift. Ein großer, kräftiger Mann mit einem Stab in der Hand. «Die Kraft», murmelte die Alte. «Steht nicht für Körperkraft, auch wenn die Karte so aussieht. Steht für die innere Kraft, die Kraft in Euch selbst. Seht Ihr die Zeichen auf der Karte? Das Venuszeichen zur Linken. Es ist die Gestalt eines Mannes, und doch kann es auch die Kraft einer Frau sein. Und hier, die liegende 8. Sie steht für die Unendlichkeit. Ist es das, was Ihr Euch wünscht? Ja? Nicht die Kraft eines starken Mannes, der Euch beschützt, sondern eigene Kraft, Kraft aus Euch selbst?»
«Ich… ich weiß nicht…»
«Die Acht zeigt Euch die Vorstellungen und Pläne der anderen für Euch», meinte die Alte und drehte die nächste Karte um. «Die Sonne», sagte sie. LE SOL. Eine riesige Sonne über sitzenden Menschen, auf die sie farbige Strahlen niedersandte, in ihrem Innern die verschlungenen Körper dreier Schlangen. «Geld, Reichtum, Sicherheit, Zufriedenheit. Schmuck, schöne Kleider, ein einflussreicher Mann, hübsche Kinder. Das wünschen sie Euch, nicht wahr, das ist die Zukunft, die sie für Euch bereithalten. Und etwas in Euch wehrt sich, Kindchen, nicht wahr?»
«Wehren?» Cristino betrachtete sie irritiert. «Warum sollte ich mich dagegen wehren?»
Laut gluckste die Alte. «Müsst noch viel lernen, Kindchen, noch viel. Sonst führt er ins Nichts, Euer Weg. Denkt an die Schicksalslinie. Wäre ein Jammer. Da, die Neun.» Sie wies auf die vorletzte Karte. «Eure Ängste, eure Hoffnungen.»
Cristino schüttelte verständnislos den Kopf und wendete die Karte.
Das erste, was auffiel, war, dass die Karte auf dem Kopf stand. Cristino drehte sie um und blickte auf einen flammenden Stern mit einem weiten Feuerschweif, der sich über ein Mädchen beugte, das an einer Quelle kniete. «Der Stern!», jauchzte die Alte verzückt.
«Oh ja, der Stern. Ihr seid nicht allein, Kindchen. Der Stern steht für die guten Mächte, die Euch beschützen. Jemand wacht über Euch, steht Euch bei in aller Gefahr, rettet Euch vor allem Übel, nicht wahr? Allerdings…» Ihr Gesicht verfinsterte sich wieder.
«Was allerdings?», fragte Cristino alarmiert.
523
«Nun, die Karte stand zunächst auf dem Kopf…», überlegte die Alte.
«Das heißt, ich werde doch nicht beschützt?»
«Doch, doch… aber da ist noch ein anderer. Einer, der Euch beschützt, und einer, der Euch Böses will.»
«Böses? Mir? Wer will mir Böses?»
«Schwer zu sagen. Eine Karte für das Gute und das Böse. Gut und Böse sind sich nahe, so
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