Die Kinder des Ketzers
nahe. Beides in einem Menschen? Oder in zweien, die sich nahestehen? Zwei Brüder, zwei Verwandte?
Schwer zu sagen, jaja.»
«Was… was besagt die letzte Karte?», fragte Cristino.
«Die Zehn ist die Synthese, das Ergebnis des ganzen, ja», murmelte die Alte. Cristino drehte die letzte Karte um.
Es war das Rad des Schicksals. Ein König zuoberst, ein Bettler zuunterst, links der Fallende, der ins Unglück stürzt, rechts der Aufsteigende auf dem Weg ins Glück, dazwischen das große Rad mit den weiten Speichen. «Und?», fragte Cristino, zitternd wie ein Angeklagter, der seinen Urteilsspruch erwartet.
«Das Rad des Schicksals dreht sich», sagte langsam die Alte.
«Herrscher stürzen, Bettler steigen zu Herrschern auf, Kriege werden gewonnen und verloren, Bekanntes verschwindet, Verschwundenes kehrt zurück ans Licht. Und mitten drin steht Ihr.» Sie sah Cristino eigenartig an. «Seltsame Dinge werden geschehen, Kindchen. Und mitten durch sie hindurch wird Euer Weg führen. In die Höhe oder in die Tiefe, ins Glück oder ins Verderben.» Sie starrte einen Moment lang auf die aufgedeckten Karten, dann schüttelte sie heftig den Kopf und raffte das Spiel zusammen.
«Was… was bedeutet das denn jetzt?», fragte Cristino ängstlich.
«Was wird denn jetzt geschehen?»
Die Alte stand auf und legte die Karten aufs Regal zurück. «Hab’s Euch schon mal gesagt – das Tarot kann Euch den Weg zeigen, aber gehen müsst Ihr ihn selber. – War ein interessantes Tarot, hab’
schon viele gesehen, aber so eins selten. Habt eine erstaunliche Zeit vor Euch, Kindchen, eine sehr erstaunliche.»
Klingt ja großartig! «Und Agnes Degrelho?»
524
«Träumt den Traum zu Ende. Ich denk’, das bringt die Lösung. Jaja, der Traum.» Damit schlurfte sie zur Tür und verschwand durch den Vorhang.
«Wartet!» Cristino sprang auf.
Licht flutete ihr entgegen, als sie den Vorhang beiseite schob, blendend rote Glut, schwer hing die Sonne über dem Horizont, die Welt vor ihr aus Terracotta gegossen. Zwischen den niedrigen Sträuchern humpelte das alte Weiblein in den Sonnenuntergang, unter dem roten Kopftuch wippten die grauen Strähnen. Das Gegenlicht verwandelte sie in gleißende Flammen, die ihren Kopf umzügelten.
«Loís, du musst sie zurückholen!», keuchte Cristino. «Sie hat mir noch nicht alles gesagt.»
«Doch, das hat sie», sagte Loís. «Sonst würde sie nicht gehen.»
Cristino schniefte und rieb sich die Augen. «Was soll denn jetzt aus mir werden?», schluchzte sie.
«Habt keine Angst», sagte Loís. «Ich werde nicht zulassen, dass Euch etwas geschieht. Ich schwöre es.»
***
«Ja, und was hat sie denn jetzt genau gesagt?», fragte Catarino neugierig, als sie wenig später durch das Tor in die dämmernde Stadt zurückliefen – der Torhüter guckte schon etwas ungeduldig.
«Na, ich weiß auch nicht so genau. Dass in meiner Vergangenheit etwas Schlimmes passiert sein muss, dass meine Familie mich nicht das machen lässt, was ich will, und dass ich in Wirklichkeit nicht nach einem Mittel gegen Agnes Degrelho suche, sondern nach irgendwelchen verlorenen Menschen und irgendeiner inneren Kraft. Komisch, das ganze.»
«Ja, und Agnes? Was hat sie über Agnes gesagt?»
«Dass sie meine Hilfe sucht, und dass ich den Traum zu Ende träumen muss.»
«Agnes sucht deine Hilfe?»
«Ja. Weil sie keine Ruhe findet, oder so», meinte Cristino.
«Uaaah. Gruselig.»
525
«Ich hab’ mal eine Geschichte gehört von einer ruhelosen Seele, da musste man Weihwasser auf ihr Grab schütten, dann war sie erlöst!», verkündete Frederi Jùli. «Aber es musste echtes Weihwasser sein, aus dem Jordan und vom Papst geweiht.»
«Hervorragend, machen wir uns also auf die Suche nach Agnes Degrelhos Grab!», nörgelte Fabiou, dem die Geschichte immer versponnener vorkam. Cristino schüttelte den Kopf. «Sie hat gesagt, ich muss herausfinden, warum Agnes keine Ruhe findet, um sie zu erlösen.»
Und reichlich kleinlaut fügte sie hinzu: «Du hast doch so viel nachgeforscht, Fabiou – weißt du, warum Agnes keine Ruhe findet?»
Catarino fuhr auf. «Aber klar! Fabiou, du hast doch gesagt, du glaubst nicht, dass der Mord an Agnes die Tat einer Wahnsinnigen war, sondern dass sie ermordet wurde, weil sie etwas beobachtet hat, nicht wahr? Und dass der, der Agnes und ihre Familie umgebracht hat, vielleicht auch jetzt die Morde begeht!»
«Ja, das habe ich gesagt», grummelte Fabiou, dem es gar nicht passte, dass seine seriösen
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