Die Kinder des Ketzers
Frage, wie du zu ihr kommen willst», stellte Fabiou fest. So benommen er sich fühlte, ihn drängte es ebenso wie Catarino nach einer Aussprache mit seiner Tante. Catarino hielt in ihrem Aktivismus inne und grübelte. Dann erhellte sich ihre Miene. «Ich hab’s!», rief sie. «Der Friedhof. Dort 538
habe ich sie letztens doch gesehen, an unserem ersten Abend in Ais. Vielleicht geht sie da ja jeden Abend hin.»
«Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht», meinte Fabiou wenig überzeugt.
«Wenn du zum ersten Mal seit dreizehn Jahren wieder an dem Ort bist, wo deine Eltern und dein Bruder begraben sind, würdest du dann nicht auch öfters zu den Gräbern gehen?»
«Aber nicht zwingend jeden Abend», grummelte Fabiou.
«Es kommt auf einen Versuch an», erklärte Catarino. «Kommt ihr mit?»
Zehn Minuten später schlichen sich die drei Geschwister auf Zehenspitzen aus der Haustür, nachdem Frederi Jùli hilfsbereiterweise den Pförtner zum Wein holen in den Keller geschickt hatte. Weitere zehn Minuten später hatten sie den Friedhof erreicht. Die Sonne stand schon tief und warf ein intensives Licht über die Grabsteine, die wie aus Gold schienen. Lange Schatten zogen über die Wege, auf denen einige alte Weiber zu den Gräbern ihrer Männer humpelten. Es war noch ziemlich heiß.
Catarino stand starr vor dem Grab ihres Vaters, ohne nach rechts oder links zu blicken. Cristino wanderte geistesabwesend durch die Gräberreihen. Fabiou stand und schaute auf den Grabstein, der den Namen Cristou Kermanach de Bèufort trug. Unter seiner Benommenheit kam mehr und mehr eine gewaltige Verwirrung zu Tage. In den vergangenen Tagen hatte er mehr als widersprüchliche Informationen über seinen Vater erhalten. Die Lobeshymnen von Oma Felicitas, seiner Mutter und Frederi, die seltsame Tatsache, dass seinen Vater einerseits kaum jemand zu kennen schien, dass ihm dessen Name andererseits bei denen, die ihn kannten, Tür und Tor zu öffnen schien – man denke nur an Suso und Louis Piqueu
–, und jetzt die vernichtenden Urteile von Onkel Philomenus und Tante Eusebia. Was für ein Mensch war dieser junge Mann gewesen, der irgendwann 1545 im Alter von vierundzwanzig Jahren an einem Fieber gestorben war, nachdem er drei Kinder in die Welt gesetzt und eine laut Tante Eusebia recht zweifelhafte Karriere als Jurist absolviert hatte?
Sein Blick wanderte nach rechts, zum Grabstein seines Onkels. Pierre Martin Avingou. Auch so eine rätselhafte Figur. Ein Genie, 539
wenn man Oma Felicitas Glauben schenken durfte. Ansonsten eher eine Unperson. Außer Oma Felicitas hatte noch keiner in der Familie auch nur einmal ein Wort über ihn verloren. Er dachte an das Bild in Oma Felicitas’ Salon. Vier Freunde. Pierre Avingou, Cristou de Bèufort, Hector Degrelho. Wer war der vierte?
Drei von ihnen waren tot. Gestorben 1545.
Fabiou blinzelte. Er glaubte nicht mehr an den Zufall, zumindest nicht, wenn er 1545 hieß. Sein Vater war möglicherweise einer der Seuchen zum Opfer gefallen, die nach der Vernichtung der Waldenser ausgebrochen waren. Aber Pierre? Ein Unfall, hatte Oma Felicitas gesagt. Überfahren von einer Kutsche. So etwas kommt vor.Was hatte Frederi gemeint, als er sagte, Onkel Philomenus sei am Tod seines Vaters schuld? Wann genau war sein Vater eigentlich gestorben? Wirklich im April, nach dem Arrêt de Mérindol?
Pierres genaues Todesdatum stand auf dem Grabstein, 5. Mai 1545. Aber Cristou?
Und in diesem Moment hörte er Cristino schreien.
Mit einem Mal war Fabiou hellwach und losgelaufen in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Dem Klappern von Schuhsohlen auf dem Kies hinter sich entnahm er, dass Catarino das Gleiche tat. Sie bogen um ein mächtiges Mausoleum und sahen sie.Im grellen Gegenlicht kniete Cristino vor einer unbekannten Grabstätte. Es musste ein Familiengrab sein, ein großer Doppelstein in der Mitte, ein kleiner Grabstein zur Rechten, drei kleine zur Linken. Die drei zur Linken waren von weißen Blüten umrankt. Catarino blieb stehen und starrte auf die Grabsteine und bekreuzigte sich, ganz gegen ihre sonstige Angewohnheit. «Die weißen Rosen», hauchte sie.
Mit offenem Mund starrte Fabiou auf die Grabsteine und auf die Namen, die darin eingraviert waren. Hector Roubert Degrelho Baron d’Astain. Justine Degrelho d’Astain née Cauville. Daniel Calixte Degrelho. Louise Penthesilea Degrelho. Alice Margalida Degrelho. Agnes Joanno Degrelho. Und sechsmal dasselbe Todesdatum. 1545.
«Agnes», flüsterte
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