Die Kinder des Ketzers
den Degen stecken zu lassen, damit er wenigstens nicht Gefahr laufe, sich selbst zu erstechen.»
Fabiou drehte sich langsam um. «Ihr habt meinen Vater gekannt?»
«Natürlich», sagte Arnac lächelnd.
«Ich bin dafür, wir machen eine Pause», grummelte Sébastien und schob seinen Degen in die Scheide.
Fabiou ging auf Arnac zu und gab ihm stirnrunzelnd den Degen zurück. «Und Degrelho kanntet Ihr auch?»
Arnac lächelte noch immer. «Erstaunt Euch das?»
«Jetzt will ich mal kämpfen, ich!», schrie Frederi Jùli. Fabiou starrte Arnac noch immer an, doch der wandte sich seinem Bruder zu. «Also gut, junger Mann», sagte er. Dann drehte er sich zu Cristino und Catarino um, die an dem Gesims lehnten, auf dem Fabiou vorher gesessen hatte. «Und was ist mit Euch, junge Damen? Wollt Ihr auch Fechtunterricht nehmen?»
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Die Mädchen starrten sich an. Beide glaubten, ihren Ohren nicht zu trauen. «Das ist… unschicklich», meinte Cristino von oben herab. Catarino kicherte.
«Ach, da fällt mir ein… Loís, du musst den Damen unbedingt beibringen, im Herrensitz zu reiten. Falls sie mal wieder von Räubern überfallen werden», rief Arnac dem Pferdeknecht zu.
«Ihr seid unmöglich!», fauchte Cristino. «Aber nur weil Ihr kein Kavalier seid, braucht Ihr nicht zu denken, ich wäre keine Dame und wüsste nicht, wie ein anständiges Mädchen sich zu benehmen hätte!»
Arnac schüttelte langsam und amüsiert den Kopf. Dann machte sein Arm eine blitzschnelle Bewegung.
Fabiou sah nur das Glitzern in der Luft.
Cristino stand am Gesims und starrte fassungslos in ihre rechte Hand, in der Arnacs Degen lag.
Fabiou stand der Mund offen. «Wie… wie hast du das gemacht?», fragte er fassungslos seine Schwester. Er hatte den Degen nicht mal gesehen – und Cristino fing ihn auf?
«Es gibt Menschen, die haben eine angeborene Begabung», sagte Arnac. In seinen Augen lag ein seltsames Schimmern. «Ihr solltet wirklich Fechtunterricht nehmen, Cristino. Ich denke, Ihr hättet das Zeug dazu.»
«Pah!», zischte Cristino, ließ den Degen fallen und stürzte ins Haus zurück.
***
Nie waren die Bilder so deutlich gewesen.
Sie sah alles bis ins letzte Detail: der Gang mit dem spiegelnden Boden aus rotem Marmor, die weißgetünchten Wände zu beiden Seiten, durchschnitten von der rotgrünen Zierleiste wie von einem Band, das durch den Abenddunst wehte – wieso Band und wieso Abenddunst, was für Erinnerungen waren das, die diese Zierleiste weckte? Der Stuck an der Decke, die Ziersäulen mit den blattför- migen Kapitälchen, und dazwischen die marmorne Statue, ihre Finger winkten, komm, Cristino, komm.
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Den Gang entlang bis zu seinem Ende. Dann nach rechts. Ein Innenhof kommt ins Bild, Zitronenbäume und Oleander, ein schattiger kleiner Springbrunnen, schlafend im Mondlicht, Stein- bänke im Kreis. Dann weiter, jetzt wieder Wände zu beiden Sei- ten, links ein Jagdfries, ein Hirsch, den Kopf zurückgeworfen, während drei Hunde ihn bedrängen und der Jäger mit der Arm- brust an der Wange auf ihn anlegt. Weiter hinten Diener, die die Jagd beobachten, einer trägt ein Horn, der andere die bisherige Beute, zwei Hasen und ein Rebhuhn, ein dritter, der ein Pferd am Zügel führt.
Wieder nach rechts. Breit der Gang, weitläufig, Säulen zu bei- den Seiten, eine hohe Decke, in der die hastenden Schritte und der keuchende Atem wiederhallen, der Gang dehnt sich, während sie rennt, wird immer weiter, unmöglich, das Ziel zu erreichen. Da ist der tote Körper auf dem Fußboden, und da, ein Stück voraus, ein zweiter Gang, der den ersten schneidet, ein großes, überwölbtes Kreuz bildend wie die Vierung einer Kathedrale, und wo die bei- den Gänge einander treffen, ist ein Mosaik im Boden eingelassen, gestaltet wie ein Stern, braun und oliv auf rotem Grund. Man muss den Stern erreichen, das ist es, worum es in die- sem Spiel geht. Wie beim Verstecken. Wer den Abschlagpunkt erreicht, ist gerettet. Hier ist es ein Stern, der sich über die Ver- folgten beugt, schützend und bewahrend. Der Stern bedeutet Ret- tung. Immer.
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Kapitel 12
in dem Cristino und Fabiou eine unliebsame Begegnung haben – mit dem Tod nämlich
So wise so young, they say, do never live long.
Man sagt, die so weise in so jungen Jahren sind, leben niemals lange. Aus Richard III. von William Shakespeare,
englischer Dramatiker (1564-1616)
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Der Mann, der Hector Degrelho getötet hatte, hatte in einem dunklen Dachgeschoss im Süden von Ais Domizil
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