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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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sie keines Blickes mehr. «Ich verstehe nicht, dass du ihr das durchgehen lässt, Frederi», schimpfte Onkel Philomenus, «ich würde es einer Tochter nie erlauben, der Pfingstmesse 611
    fernzubleiben.» «Halt den Rand, Philomenus!», schrie Frederi, immer noch den Tränen nah. «Diese Memme», zischelte Tante Eusebia, und Fabiou fühlte, wie die Verachtung gegenüber seinem Stiefvater ihm den Magen herumdrehte. «Alles ist so ungerecht», heulte Catarino einen Stock höher in ihr Kissen. «Mir ist dieser blöde Vascarvié auf den Fersen und verbreitet bösartige Gerüchte über mich, aber dafür interessiert sich keiner, immer dreht sich alles nur um Cristino!»
    Am dritten Tag, den Cristino ohne ein Wort zu sprechen und ohne einen Bissen zu essen in ihrem Bett verbracht hatte, saß Frederi an ihrer Seite, tätschelte ihre Hand, streichelte ihr Haar und sagte: «Cristino, sag etwas, sprich mit mir, ich tue auch alles, was du willst!»
    Sie sagte nichts. Sie presste ihr Gesicht in die Kissen. Frederi raufte sich die Haare. Er sah krank aus. Er stand auf und ging zur Tür.
    «Loís», flüsterte Cristino. «Ich will, dass Loís kommt.»
    «Kommt ja gar nicht in Frage», sagte die Dame Castelblanc. So kam Loís an Cristinos Seite. Er saß auf einem Hocker neben dem Bett, las ihr vor, Gedichte von Ronsard und Bellay, juristische Abhandlungen und die Flugblätter des Parlaments und was immer ihm sonst zwischen die Hände kam, und wenn sie nachts schreiend aus dem Schlaf fuhr, wiegte er sie in seinen Armen wie ein kleines Kind.
    ***
    Am 6. Juni entschied Frederi, dass er seinen Stiefsohn nicht länger in Hosen herumlaufen lassen würde, die gerade bis über die Knie reichten, und schleifte Fabiou zum Schneider. Dort verbrachte Fabiou einen der langweiligsten Vormittage in seinem Leben, während zwei Schneidergesellen um ihn herumsprangen, Maß nahmen, Stoffe anlegten und Bünde absteckten. Als er endlich gegen halb zwölf der Enge der Schneiderwerkstatt entkam – man versicherte ihnen, die neuen Gewänder bis zum Ende der Woche zu liefern
    – war er von dem dringenden Wunsch erfüllt, an diesem Tag noch etwas Sinnvolles zu tun. Als der Abend hereinbrach und alle be612
    schäftigt waren – vornehmlich mit Cristino –, schlüpfte er unter Verzicht auf zeitraubende Fragen um Erlaubnis aus dem Haus und machte sich auf den Weg.
    Als Fabiou die Plaço dis Jacobin erreichte, war dort nicht allzu viel los. Ein Bettler flehte um Almosen für einen einarmigen Blinden, ein armer Irrer stand auf einem leeren Weinfass und verkündete den Weltuntergang. Ein paar Kinder spielten Fangen. Sie benutzten die Pin de Genas als Abschlagplatz.
    Warum die Pin de Genas Pin de Genas hieß und nicht zum Beispiel Pin dei Jacobin, war ein Rätsel, dem Fabiou nächstes Jahr nachgehen wollte. Es war ein großer, mächtiger Baum, der in der tiefstehenden Abendsonne einen breiten, düsteren Schatten über die Ostseite des Platzes und die anliegenden Gebäude warf. Kenner wie Jean de Mergoult wussten zu berichten, dass man an dieser Pinie fünf Protestanten auf einmal aufhängen konnte. Jetzt freilich schwankten die Äste harmlos und leer im sanften Abendwind, die Zweige vergoldet von der sinkenden Sonne, und Fabiou, der noch nie eine Hinrichtung gesehen hatte, versuchte sich den Baum mit fünf daran hängenden toten Protestanten vorzustellen, doch das Bild, das dabei herauskam, war so abstrus, dass er es rasch wieder ließ.
    Es gab in Ais kein eigentliches Protestantenviertel, so wie es ein Judenviertel gab. Was sicher auch damit zu tun hatte, dass es in Ais offiziell keine Protestanten gab, zumindest keine lebenden. Dennoch wusste jeder, dass die meisten Protestanten in der östlichen Ville Comtale wohnten, südlich der Carriero dei Salin. Hier gab es viele Händler und kleine Kaufleute. Die meisten Protestanten gehörten dieser Gesellschaftsschicht an.
    Glaubte man der Theorie von Sébastien, war es an sich ganz schön wagemutig, kurz vor Sonnenuntergang als Katholik in einem Gebiet herumzugeistern, das vornehmlich von Protestanten bewohnt war. Trotzdem, selbst wenn es unter den Protestanten einen wahnsinnigen Mörder gab, schätzte Fabiou die Masse der Protestanten eher als weinerliche Betschwestern ein, die ihm nicht allzu große Angst einjagten. Er schlenderte durch den Camin de Nazareth und bog in die Carriero dou Gran Pous ein. Was genau er suchte, wurde ihm erst klar, als er es fand.
    613
    M. Antoine Carbrai Marchand.
    Ein Schriftzug, mit

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