Die Kinder des Ketzers
einen Mythos.
Er zog den Zettel heraus, auf dem er die Widmung aus UTOPIA notiert hatte, und starrte auf die Reihe der unverständlichen Namen. Magister Morus. Comes Ianus. Schionatulander. Augustus. Cosmas. Orléans. Coeur de Lion. Eleazar. Lancelot. Mountagno. Franciscus. Gracchus. Und Carfadrael. «Mein Gott», flüsterte er leise, «was haben die mit euch gemacht?»
Ein paar Minuten saß er so. Stille ringsumher, ab und zu das Rascheln von Pergament und das Kratzen von Federn auf Papier, wenn ein eifriger Student sich seine Notizen machte. Er versuchte sich zu konzentrieren. Diese Bibliothek barg mehr als eine Menge wissenschaftlicher Schinken und eine stark überarbeitete Stadtgeschichte.
Ingelfinger.
Was hatte er an jenem Tag nach dem Fest bei den Mancoun hier gemacht? Fabiou war damals automatisch davon ausgegangen, er habe ebenfalls nach der Inschrift in UTOPIA gesucht, da dort schließlich wie in Trostetts Brief der Name Carfadrael erwähnt 642
wurde. Aber war dies wahrscheinlich? Was hatte ein deutscher Spion für ein Interesse an einer Widmung mit einer Liste von Fantasienamen? Hatte Ingelfinger am Ende etwas völlig anderes gesucht?
Er stand auf und lief zu jenem Regal hinüber. Was mochte hier sein, das von solcher Wichtigkeit war, dass die Spione des Kaisers sich dafür interessierten?
Trostett. Trostett war einer von Ingelfingers Leuten. Ingelfinger erhält die Nachricht, dass er ermordet wurde. Was denkt er? Wohl, dass es sich um ein politisches Komplott handeln muss. Was tut er?
Versuchen, die Hintermänner des Komplotts ausfindig zu machen. Herauszufinden, ob dem Reich von denen, die Trostett getötet haben, Schaden droht. Er kommt hierher. Wahrscheinlich weiß er eine Menge über Trostetts Vergangenheit. Wahrscheinlich weiß er, dass dieser einmal mit der Bruderschaft zu tun hatte. Wahrscheinlich weiß er noch viel mehr. Aber vermutlich nicht alles, wenn man an das Gespräch mit Petri denkt. Er macht sich auf, nach den fehlenden Informationen zu suchen. Er gibt sich als Grandjean aus, spioniert unter diesem Namen in der feinen Gesellschaft herum. Und als allernächstes marschiert er in diese Bibliothek. Warum?
Doch wohl nur, weil er glaubt, zwischen diesen beiden Regalwänden etwas absolut Bahnbrechendes herauszufinden!
Fabiou starrte auf die Regalwand. Ein Buch mit schwarzem Einband hatte Ingelfinger in der Hand gehalten. Schwarzer Einband. Es gab hunderte in diesen beiden Regalen.
Er ging diesmal systematisch vor. Er fing auf der rechten Regalwand links oben außen an und arbeitete sich langsam nach rechts unten vor. Platons «Euthydemos», Cäsars «De Bello Gallico», Ovids
«Metamorphosen» – das Ordnungsprinzip erstaunte ihn erneut –, Dante, Petrarca, Machiavelli.
Er hielt inne.
EXERCITATIO DE CREATIONE HOMINIS VOLANTI
FUNDATO IN INVESTIGATIONIBUS CELEBRISSIMI
LEONARDI VINCII
PETRI MARTINI AVINGI
Professoris Philosophiae in urbe Aquae Sextiis
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Abhandlung über die Schaffung des fliegenden Menschen gegründet auf die Untersuchungen des hochberühmten Wissenschaftlers Leonardo da Vinci. Autor Pierre Martin Avingou.
Er blätterte durch die Seiten. Druckdatum 14. Februar 1545. Nur drei Monate vor Onkel Pierres Tod erschienen. Druckerei Mouche Piquéu, Rue du Puits-Chaud, Aix. Lateinischer Text, zahlreiche Skizzen und Abbildungen. Anatomische Darstellungen von Vögeln. Geometrische Versuche über mechanische Flügel. Skizzen von Gestellen, an denen Flügel montiert waren, in einige von ihnen Sitzflächen integriert, auf denen Menschen saßen. Die Skizzen waren signiert mit F. C. Frederi? Unmöglich!
«Die menschliche Armmuskulatur ist im Vergleich zum Vogel zu gering ausgebildet, als dass es möglich erscheint, dass ein Mensch sich mit an den Armen befestigten Flügeln in die Luft erhebe. Eine Flugmaschine ist somit nur mit starren Flügeln denkbar, die allein durch die Luftströmung in der Höhe gehalten wird, oder mit mechanisch bewegten Flügeln. Ein zwei Spannen großes Modell aus Holzstreben und Pergament ist, in den Wind geworfen, durchaus in der Lage, sich für eine Spanne bis zu zwanzig Sekunden in der Luft zu halten. Versuche mit größeren Modellen scheitern bisher daran, dass keine vergleichbare Beschleunigung erzielt werden kann.»
Ein seltsames Gerät, eine Art schraubenförmiges Zeltdach, drehbar über einem Gestell gelagert.
«Die Luftschraube, von Leonardo da Vinci entwickelt, kann ab einer gewissen Drehzahl einen nach unten gerichteten Luftstrom
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