Die Kinder des Ketzers
sich die Tür hinter ihrer Schwester geschlossen hatte. «Habt Ihr etwas wegen Agnes Degrelho herausgefunden?»
Beatrix setzte sich zu Cristino an den Bettrand. «Cristino…», begann sie, dann brach sie ab mit einem tiefen Seufzer.
«Es ist schlimm, ja?», flüsterte Cristino. «Ich werde sterben, das wollt Ihr mir doch sagen. Agnes ist gekommen, um mich abzuholen, so ist das.»
«Blödsinn!», entfuhr es Beatrix. «Es ist nur… oh, Cristino, ich würde es dir so gerne sagen, aber ich darf nicht! Ich habe einen Eid geleistet!»
«Dann berührt es die Geheimnisse der Kirche?», krächzte Cristino. Sie hatte von geheimen Büchern im Vatikan gehört, in denen alle Mysterien der Welt niedergelegt waren. Einschließlich alles, was es über Geister und Hexerei zu wissen gab.
«Cristino», ihre Tante fasste sie bei den Händen, «es wird der Tag kommen, an dem du alles verstehen wirst. Aber im Moment kann ich nichts für dich tun, was Agnes Degrelho betrifft. Aber Agnes ist auch nicht das Problem. Agnes stellt keine Gefahr für dich da. Wohl aber diese Leute, die dir letztens auf dem Fest der Mergoults aufgelauert haben.» Sie schob eine hervorgerutschte Haarsträhne unter ihre Haube zurück. «Cristino, du musst vorsichtig sein», sagte sie. «Da ist jemand, der dir Böses will. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wer und warum, aber ich habe einen Verdacht. Und wenn ich recht habe, schwebst du in Lebensgefahr!»
Cristino zitterte. «Ich sage es ja», schniefte sie. «Deshalb ist Agnes zu mir gekommen, deshalb!»
«Oh, Cristino!» Tante Beatrix legte ihren Arm um sie. «Es tut mir so leid.»
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«Tante Beatrix?»
«Hm?»
«Wie war das damals, als Vater starb?»
«Ich habe dir doch schon einmal gesagt, du musst das Frederi fragen.»
«Nein, ich meine… wie passiert so etwas? Eine Seuche, meine ich.»
«Nun, Seuchen entstehen eben oft in Notzeiten, besonders in Kriegen, wenn viele Menschen zu Tode kommen und nicht richtig begraben werden…»
«Das weiß ich. Das meine ich nicht.» Cristino schüttelte den Arm ihrer Tante ab. «In den Büchern steht immer, dass Krankheiten entstehen, wenn das Gleichgewicht der Körpersäfte durcheinanderkommt. Paracelsus sagt, Krankheiten entstehen, wenn der innere Alchemist versagt. Aber wie passt das alles zu Seuchen? Es kann doch nicht bei allen Menschen gleichzeitig zu einer Störung der Körpersäfte kommen, oder?» Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: «Glaubst du an das Contagion?»
Tante Beatrix lächelte. «Das Contagion? Du meinst, dass es eine Substanz gibt, die eine Krankheit von einem Menschen auf den anderen übertragen kann? Sag bloß, du hast Fracastoro gelesen…
Nun, in Hinblick auf Seuchen muss man ja fast daran glauben. Jeder verhält sich so, als ob es das Contagion gäbe. Sonst wären Quarantänemaßnahmen ja sinnlos.»
«Aber wenn das so eindeutig ist, warum wird es von so vielen Medizinern dann als Aberglaube abgetan?»
Tante Beatrix hob in ihrer typischen Art die Augenbrauen.
«Neue Ideen brauchen immer eine Weile, sich durchzusetzen. Mit einer Weile meine ich ein paar hundert Jahre. Denk mal an die Sache mit dem Blutkreislauf. Als Miguel Servet vor zwanzig Jahren gesagt hat, das Blut fließe vom Herz über die Lungenarterien in die Lunge und über die Venen zurück, da ging ein Schrei der Entrüstung durch die Ärzteschaft. Dabei haben mein Bruder und ich schon Jahre zuvor in der Bibliothek der Universität Padua ein Dokument gesehen, in dem ein Reisender von den Forschungen eines arabischen Gelehrten aus dem 12. Jahrhundert berichtete, und dieser Araber hat schon damals den Blutkreislauf gekannt. Eine uralte 639
Geschichte also, aber ich bin sicher, dass es noch ein paar hundert Jahre dauern wird, bis endlich allgemein anerkannt ist, dass in den Arterien keine Luft ist! Zumal Servet, der Einzige, der genial genug gewesen wäre, es zu beweisen, den Fehler gemacht hat, sich mit Calvinus anzulegen.»
«Wegen dem Blutkreislauf?», fragte Cristino erstaunt.
«Nein. Wegen der Frage der Dreieinigkeit. Die beiden haben sich damals in Paris den reinsten Krieg über dieses Thema geliefert. Und Servets Verhängnis war, dass er, Wissenschaftler der er war, nicht begriff, dass es für einen Fanatiker wie Calvinus keinen Unterschied zwischen einem philosophischem Disput und einem Kampf auf Leben und Tod gibt.»
«Wieso… Verhängnis?», fragte Cristino unsicher.
«Oh, er hat vor ein paar Jahren den Fehler gemacht, auf seinem Weg nach Neapel in
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