Die Kinder des Ketzers
tot war!»
Frederi stand wie vom Donner gerührt. «Das ist nicht wahr», flüsterte er.
«Das ist wahr!», schrie Catarino. «Es ging Euch immer nur darum, Vater alles wegzunehmen, Mutter, uns, alles! Ich hasse Euch!
Ich hasse Euch! Ich…»
Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment drehte Philomenus sich um und versetzte ihr eine Ohrfeige, die sie gegen den Tisch schleuderte. Zwei Teller mit Suppe schossen über die Tischkante und zerschepperten auf dem Boden. Es war still geworden. Frederi stand wie erstarrt und glotzte auf Catarino, die japsend auf der Tischplatte hing. Die Dame Castelblanc zupfte an ihrem Kragen herum. Ihre Schminke löste sich auf in Schweißperlen. Frederi Jùli hatte sich in den Türrahmen gedrückt, bereit zur sofortigen Flucht, falls die Lage eskalieren sollte. Theodosius angelte nach einem Hähnchenschlegel. Irgendwo tropfte Suppe mit einem leisen Plick-Plick auf den Boden. «Aua», sagte Maria Anno.
In diesem Moment begann Madaleno zu schluchzen. Nicht das theatralische Schluchzen, das sie sonst am Grab ihrer Lieben zur Schau trug. Es klang wie das Weinen eines kleinen Mädchens, hilflos und verzweifelt. Sie ließ ihr Gesicht in die Hände sinken. Tränen tropften durch ihre Finger, vermischt mit Talkum und Rouge.
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«Madaleno…» Frederi drehte sich benommen zur Seite und tätschelte seiner Frau den Kopf. «Madaleno…»
Fabiou nagte an seiner Unterlippe. «Wie ist mein Vater gestorben?», fragte er. «Haben sie ihn an der Pin de Genas gehängt oder was?»
Frederi drehte sich um. Er lachte schrill auf. «Denkst du das von mir?», rief er. «Denkst du wirklich, ich hätte deinen Vater so sterben lassen?»
Fabiou sagte nichts. Er fand es ziemlich schwer zu entscheiden, was er überhaupt denken sollte. «Warum habt Ihr uns nie davon erzählt?», fragte er müde.
Catarino rappelte sich auf. Ihr rechter Ärmel triefte vor Suppe. Sie starrte Frederi an, und ihre Mutter, und Onkel Philomenus. Dann schüttelte sie den Kopf und rannte aus dem Raum.
***
Oma Felicitas schloss die Tür hinter sich und sah seufzend auf Catarino, die auf ihrem Bett lag und heulte. Cristino, neben ihr auf der Bettkante, streichelte ihrer Schwester sanft und mechanisch die Haare. Fabiou saß am Fenster und starrte in den strahlenden Sommertag hinaus. An der Tür, direkt neben Oma Felicitas jetzt, trat Frederi Jùli von einem Fuß auf den anderen. Er schien das Verhalten seiner Geschwister ziemlich unheimlich zu finden. Sie setzte sich neben Cristino aufs Bett. «Oh, Kind», seufzte sie und strich Catarino über den Kopf. «Armes Kind.»
«Warum habt Ihr uns nie etwas davon gesagt?», schluchzte Catarino. «Warum?»
Die Großmutter seufzte wieder. «Wir mussten es eurer Mutter versprechen, dass wir euch nie davon erzählen», antwortete sie.
«Sie sagte, sie würde es nicht überleben, wenn ihr je die Wahrheit erfahrt. Und Philomenus wollte auch nicht, dass man darüber spricht. Damals – ging alles drunter und drüber, und mit seinen Beziehungen zum Parlament hat er es geschafft, zu verhindern, dass unsere Familie ins Gerede kam. Kaum jemand in dieser Stadt hat überhaupt mitbekommen, auf welche Weise sein Schwager starb, die meisten glauben wohl wirklich, er wäre damals wie so 719
viele andere an einer Seuche gestorben. Kaum jemand hat überhaupt gewusst, dass Cristou Protestant war; er hat es verheimlicht, schon weil er als Protestant unmöglich seinen Beruf hätte weiter ausüben können. Und Philomenus wollte auf alle Fälle verhindern, dass durch eine unüberlegte Bemerkung von einem von euch die Sache am Ende doch offenkundig wurde.»
«Die Sache!» Catarino hatte den Kopf gehoben, ihre Augen waren rotverheult. «Es ist mein Vater, um den es da geht!»
«Ich weiß, Catarino.» Oma Felicitas’ Augen waren alt und traurig. «Ich habe ihn auch geliebt.»
«Wieso hat er das getan?», fragte Cristino tonlos. «Es war Ketzerei. Wie konnte er den wahren Glauben nur so verraten?»
Oma Felicitas hob ihre Schultern. «Cristou war ein unglaublich religiöser Mensch, Cristino, immer schon. Und er fand die Vorstellung unerträglich, dass die Kirche Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Überzeugung verfolgen und ermorden lässt, wo sie doch den Lehren Jesu verpflichtet sein sollte, der Nächstenliebe, der Gnade, der Liebe zu allen Menschen», sagte die Großmutter. «Eine Kirche, die solche Dinge tut, stand seiner Ansicht nach nicht mehr auf dem Boden des Evangeliums. Der Protestantismus war in
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