Die Kinder des Ketzers
solltet Ihr nicht oben in der Wärmestube sein?», sagte er.
«Carfadrael!» Der Alte wiegte kichernd seinen Oberkörper vor und zurück. «Caar-fa-a-a-dra-el!», sang er in einer nicht näher definierten dorischen Tonart.
«Das ist Bruder Severinus», seufzte Antonius. «Er war früher ein brillanter Geist, hat sogar als Lehrer in einer Klosterschule unterrichtet. Inzwischen ist er leider etwas wunderlich geworden.»
«Carfadrael!», fauchte der Alte plötzlich und sein Kopf schoss vor, dass er aussah wie ein verknitterter alter Raubvogel. «Verfluchte Bengels. Verprügeln hätte man sie sollen, verprügeln!»
«Wen meint er?», fragte Frederi Jùli unbehaglich. Er hoffte, es ging nicht immer noch um seine Schlägerei mit Theodosius.
«Vermutlich irgendwelche ehemaligen Schüler, die ihm vor dreißig Jahren ein paar Streiche gespielt haben», meinte Antonius lachend.
«Streiche!», brummte da der Alte. «Das haben sie alle gesagt, dumme Streiche, und nicht mehr! Aber ich habe damals schon gewusst, dass mit diesen dummen Streichen die Saat der Ketzerei gelegt worden ist! Und habe ich nicht recht behalten? Habe ich das nicht? Dumme Streiche, ha! Diese Bengels, die Gott strafen möge, mit ihrem ketzerischen Gerede und ihren Heimlichkeiten! Eine Verschwörung war das, eine Verschwörung! Aber Thomas, dieses Lämmlein mit seinem Gelaber von den armen, unschuldigen Kindlein, die doch nicht wissen, was sie tun! Und wie die das gewusst haben, und wie!»
«Welche Kindlein denn?», fragte Frederi Jùli treuherzig. 729
«Na, diese Bande da eben!», rief der Alte. «Diese komische Bruderschaft! Mit diesen komischen Namen, die sie sich gegeben haben, Carfadrael, und Magister Morus, und Graf Ianus, und Schionatulander und so weiter.»
Fabiou und Bruder Antonius starrten einander an. «Mo…Moment mal», begann Bruder Antonius, «verstehe ich Euch richtig
– Ihr redet von Eurer Schule? Da gab es Kinder, die eine Bruderschaft gegründet haben? Und sich Carfadrael und Morus und so weiter nannten?»
«Ja, klar, sag ich doch!», schimpfte der Alte. «Haben sich nachts in dem alten Gewölbe unter der Schule getroffen und Versammlungen abgehalten. Und ketzerische Reden dabei geschwungen. Verprügeln hätte man sie sollen! Aber Thomas, das Lämmlein, als er es herausfand, sagte nur, unschuldige Kindlein, und wissen nicht, was sie tun! Ein Idiot war Thomas!» Er kroch auf seinem Stuhl in sich zusammen und murmelte unverständliche Worte in die Kapuze seiner Kutte.
«Na ja», meinte Fabiou, «diese Kinder müssen sich die wirkliche Bruderschaft als Vorbild für ihr Spiel genommen haben.»
Bruder Antonius schüttelte langsam den Kopf. «Fabiou, du verstehst das falsch», sagte er. «Bruder Severinus ist seit über 25 Jahren hier in diesem Konvent. Die Geschichte, die er da erzählt, kann allerspätestens 1530 passiert sein. Also Jahre bevor die Bruderschaft von sich reden machte.»
Fabiou starrte ihn an mit offenem Mund. «Was war das für eine Schule?», fragte er.
«St. Throphimus glaube ich. In Arle», sagte Bruder Antonius.
«Die kenn’ ich! Da war mein Papa auch!», rief Frederi Jùli beglückt.
«St. Throphimus», wiederholte Fabiou. «In Arle.» Dann drehte er sich um und flitzte zur Tür hinaus.
***
Bruder Antonius und Frederi Jùli holten Fabiou erst an der Kreuzung der Carriero dei Salin mit der Carriero Vauvenargo ein, und auch das nur, weil die Straßen hier plötzlich durch eine ausufernde 730
Menschenmenge verstopft waren. «Was ist denn hier los?», fragte Frederi Jùli erstaunt, und ohne eine Antwort abzuwarten stürzte er sich mitten in den Menschenstrom, der sich weiter die Carriero dei Salin hinunterwälzte, der Plaço dei Prechadou zu, und weiter nach rechts. Fabiou, kurz davor, in die Carriero Vauvenargo einzubiegen, blieb stehen. «Frederi, warte!», schrie er. Na toll! Von seinem Bruder war bereits nichts mehr zu sehen. Mit einem wütenden Fluch machte Fabiou auf dem Absatz kehrt und stürzte sich, gefolgt von Bruder Antonius, ebenfalls ins Gewühl. Sie liefen über die Plaço dei Prechadou und dann die Straße hinunter, die zur Stadtmauer und damit zur Plaço dis Jacobin führte. Das Gedränge verdichtete sich, als sie die Plaço dis Jacobin erreichten. Fabiou verrenkte den Hals. Und schnappte nach Luft. Zirka fünf Schritte vor ihm redete Frederi Jùli auf einen jungen Mann ein. Und das war niemand anderes als Jean de Mergoult. Fabiou kämpfte eine gute halbe Minute mit der Überlegung, ob er
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