Die Kinder des Ketzers
über den Kopf zog. Neben ihr stand jetzt der Priester und redete auf sie ein. Auf Lateinisch. Alexandre de Mergoult kam aus der Menge hervorgeschossen, gefolgt von Fabiou und Loís und Catarino und Antonius sowie von seinem Bruder und Andréu d’Estrave, die beide Cristinos seltsamen Ausbruch wohl deutlich sensationeller fanden als so eine langweilige hundertste Hinrichtung. Fabiou blieb ruckartig stehen, als er sich so unvermittelt wieder Sébastien gegenüber sah, welcher ihn aber gar nicht bemerkte, sondern mit gerunzelter Stirn Alexandre de Mergoult anschaute. Auf dessen Gesicht erschienen augenblicklich Gewitterwolken, als er Arnac erblickte. «Nimm sofort deine Finger von Cristino!», zischte er. «Oder…»
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Arnac machte einen Satz nach vorne. «Oder was?», schrie er.
«Willst du mich sonst verprügeln, so wie letztens Loís? Willst du mich umbringen? Na los, probier’s doch!»
Cristino wand sich aus Arnacs Arm, stolperte schluchzend rückwärts. Alexandre machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu. «Jesus, Cristino, was ist denn los?», fragte er entgeistert. Cristino antwortete nicht. Sie heulte.
«Was mit ihr los ist?», schrie Arnac. «Du fragst noch, was mit ihr los ist? Fünfzig Schritte von uns entfernt wird in diesem Moment eine wehrlose alte Frau ermordet, und du fragst, was los ist?»
Mergoult drehte sich um. Seine Augen waren plötzlich kalt wie eine Winternacht. «Diese ‹wehrlose alte Frau›, wie du es ausdrückst, ist eine gottverdammte Hexe und Teufelsanbeterin!»
«Eine Hexe. Ach ja. Und wie sind unsere lieben Freunde von der Inquisition, die uns allzeit vor allem Unheil beschützen, diesmal darauf gekommen?», schrie Arnac. «Hat sie irgendwer mit einem Besen über die Dächer von Ais fliegen sehen? Hat sie ein paar Kühen den Euter abgehext und ein paar Parlamentsmitgliedern die Nasen?»
«Die Hexe ist in einem ordentlichen Prozess zum Tode verurteilt worden!», rief Alexandre de Mergoult. «Sie hat gestanden, dass sie eine Hexe ist!»
«Sie hat gestanden, natürlich!» Arnac warf die Arme in die Luft.
«Sie gestehen immer! Wenn die Inquisition dich ein paar Tage lang foltern würde, würdest du auch gestehen, dass du eine Hexe bist und mit dem Teufel im Bunde, und ich genauso! Das soll ein verdammter Beweis sein?»
«Es war ein formell einwandfreier, rechtsgültiger Prozess!», brüllte Alexandre.
«Soll ich dir was sagen?», schrie Arnac. «Ein Prozess, der sich solcher Mittel bedient, der ist weder einwandfrei noch rechtsgültig, der ist schlicht und ergreifend Mord, ein grausamer, eiskalter Justizmord und mehr nicht! Und das gilt für alle so genannten Hexenprozesse…»
«Arnac!» Sébastiens Blick war alarmiert.
«… und genauso für all die Prozesse, die die Inquisition gegen all die armen Menschen führt, die sie als Ketzer bezeichnet, nur weil 736
sie ein klein bisschen anders zu Gott beten oder ein klein bisschen am selbstherrlichen Bild unserer Kirche kratzen…»
«Arnac, verdammt!» Panik in Sébastiens Stimme. Er war kalkweiß geworden.
«… die den einfachen Menschen Armut und Bescheidenheit und Nächstenliebe predigt, während ihre eigene Führung lügt und betrügt und in Verschwendungssucht lebt, das habe ich dazu zu sagen!»
Es war totenstill geworden. Jean de Mergoult stand mit offenem Mund da. Sébastien schüttelte wortlos den Kopf. Fabiou öffnete und schloss seine Lippen wie ein blubbernder Fisch. Bruder Antonius sah aus, als wolle er in den nächsten Sekunden in Ohnmacht fallen.
Ganz langsam ging Alexandre de Mergoult auf Arnac zu, ganz langsam streckte er einen Finger aus und tippte ihn dem anderen gegen die Brust. «Diesmal, Couvencour», sagte er, «bist du zu weit gegangen. Zwei Zeugen. Ich habe mindestens zwei verlässliche Zeugen, die deine ketzerischen Reden bestätigen werden. Die Inquisition wird sich für deine Ansichten interessieren, mein Freund, da kannst du Gift drauf nehmen. Für das, was du eben gesagt hast, wirst du bluten, Couvencour, das versichere ich dir.» Er drehte sich um und lief davon, über die Plaço dei Prechadou. Jean und der junge Estrave glubschten ihm einen Moment lang perplex hinterher, dann rannten sie ihm nach.
«Senher Couvencour, Ihr seid wahnsinnig!», krächzte Bruder Antonius. Auf seiner Oberlippe hatten sich Schweißtropfen gebildet.
Arnac, der Mergoult hinterher gestarrt hatte, drehte sich um.
«Na, ist doch wahr!», rief er wütend.
«Sie werden Euch töten», flüsterte Antonius. «Mein
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