Die Kinder des Ketzers
ehrwürdigen Mutter Consolatoria für ihre Nichte Cristino. Als Cristino es in ihrem Zimmer aus dem Leinentuch gewickelt hatte, in das es eingeschlagen war, starrte sie auf einen großen Folianten mit der Aufschrift Dix livres de la chirurgie . Docteur Ambroise Paré. Atemlos schlug sie es auf und begann zu lesen.
So vergingen die Tage bis zum 27. Juni, an dem plötzlich an allen strategisch wichtigen Plätzen von Ais, dem Hauptportal von Sant Sauvaire, dem Tor der Universität und natürlich dem Eingang zum Parlament, ein Aushang auftauchte, auf dem verkündet wurde, dass das Zigeunerweib Maria Giulliamo der Zauberei, Hexenkunst und Teufelsanbetung überführt worden sei und somit in vier Tagen, sprich am 1. Juli 1558, auf der Plaço dis Jacobin mittels Aufhängen am Halse dem Tode zugeführt werde.
Das Hexenweib war offensichtlich reuig gewesen.
***
Es war einer jener Morgen, den man bei gutem Gewissen als märchenhaft bezeichnen konnte. Die Sonne hob sich in märchenhaftem Glanz aus ihrem Versteck im Osten und überschüttete die Stadt mit einem märchenhaften rosafarbenen Schimmer, der Wind wehte mit sanftem Säuseln um die Häuser, bereit, sie an diesem Tag vor allzu großer Hitze zu bewahren, und einen märchenhaften Duft nach Meer, Salz und Ferne mit sich tragend. Bei all dieser Märchenhaftigkeit konnte man es Cristino nicht übel nehmen, dass sie quasi auf einen Märchenprinzen wartete, und als auch an diesem Vormittag Alexandre de Mergoult an ihre Türe klopfte, um sie und ihr reizendes Fräulein Schwester zu einem kleinen Spaziergang durch die märchenhaften Straßen der Stadt abzuholen, da war es um sie geschehen. Hätte er ihr in diesem Moment einen Heiratsantrag gemacht, sie wäre ihm zu Füßen gelegen. Entsprechend gut war die Stimmung bei Cristino und Alexandre de Mergoult, als sie an diesem Vormittag loszogen, und ent727
sprechend schlecht bei Loís, der wie stets in gebührendem Abstand hinter ihnen her trottete.
An eben diesem Morgen fragte Bruder Antonius Fabiou und Frederi Jùli, ob sie ihm helfen könnten, ein paar Bücher von der Carriero de Jouque zurück in den Konvent zu schaffen. Frederi Jùlis Begeisterung hielt sich in Grenzen, doch Fabiou folgte bereitwillig. Seine Gedanken gingen momentan derart im Kreis, dass er für jede Ablenkung dankbar war.
Da sie so schwer bepackt waren, durften sie ausnahmsweise in die Wirtschaftsräume des Konvents eintreten. Sie stapelten die Bücher auf einen Tisch; Bruder Antonius wollte sie dann alleine in die Bibliothek hinauftragen, da diese nicht mal schwer bepackten Laien zugänglich war.
Der Ausflug hatte seine Wirkung auf Fabiou freilich verfehlt; er hatte die gesamte Carriero drecho hinab «König der Schwerter» vor sich hingemurmelt, war in der Carriero d’Esquicho Mousco dann zu «Rablois» übergegangen und mittlerweile bei «Carfadrael» angelangt. Bruder Antonius betrachtete ihn kopfschüttelnd, während er die Bücher auf dem Tisch zu sortieren begann. «Findest du nicht, dass das Ganze bei dir langsam krankhaft wird?», fragte er. Fabiou knallte seine Bücher auf den Tisch. «Antonius, was ist damals passiert?», schrie er, ziemlich laut angesichts des heiligen Ortes, an dem er sich befand. «Carfadrael. Die Bruderschaft. Etwas wollten sie verhindern. In Zusammenarbeit mit den Antonius-Jüngern? In Zusammenarbeit mit dem hiesigen Adel? Keine Ahnung. Ihre Gegner nennt Hannes die Könige der Schwerter und der Münzen. Und wer war das? Keine Ahnung. Dann wurden sie verraten. Von wem? Keine Ahnung. Und was hat das alles mit Rablois und mit den Degrelho-Mädchen zu tun? Keine Ahnung, keine Ahnung, keine Ahnung. Verdammt, Antonius, ich weiß so viel, so gottverdammt viel, und es nützt mir nichts, gar nichts, ich tappe noch genauso im Dunkeln wie zuvor!»
Bruder Antonius schüttelte den Kopf. «Fabiou, du erwartest zu viel. Es gibt Geheimnisse, denen man niemals auf die Spur kommen kann.»
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«Ich will dem Ganzen aber auf die Spur kommen!», rief Fabiou wütend. «Ich will wissen, was aus Carfadrael und der Bruderschaft geworden ist. Ich will…»
Er brach ab. Ein hohes Lachen klang durch den Raum. «Carfadrael!», kicherte eine hohle Fistelstimme. «Carfadrael!»
Fabiou fuhr herum und starrte auf einen uralten Mönch, der in einer Ecke des Raumes auf einem Hocker kauerte. Er hatte seine Kutte bis über die Knie hochgezogen und kratzte abwesend an einer Schrunde an seinem Unterschenkel herum. Antonius seufzte. «Bruder Severinus,
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