Die Kinder des Ketzers
zuckten.
«Soll ich dir eine Geschichte von fleischlicher Lust erzählen, Cristino?», keuchte er. «Soll ich dir eine Geschichte vom wirklichen Leben erzählen? Von meiner Mutter zum Beispiel, die nicht älter als du war, als sie ihren Körper an jeden dahergelaufenen geilen Hund verkaufen musste, um nicht in der Gosse zu verhungern?
Die nicht einmal wusste, welcher ihrer fettwanstigen Freier es war, der mich gezeugt hat? Soll ich dir erzählen, wie sie gestorben ist, mit bestenfalls zwanzig Jahren, ihr ganzer Körper zerfressen von der Syphilis?»
Cristino war erstarrt in seinen Armen. Schwach versuchte sie, sich loszukämpfen. «Lass… mich los», krächzte sie. «Hör… auf damit.»
«Ich war fünf Jahre alt, Cristino, als sie starb, fünf Jahre, ohne irgendeinen Angehörigen, ohne ein Dach über dem Kopf oder auch nur ein Stück Brot zwischen den Zähnen. Ich habe gelogen und gebettelt und gestohlen, um überhaupt am Leben zu bleiben. Und als sie mich in Ate ins Gefängnis steckten, war ich gerade zwölf, kaum älter als dein kleiner Vetter Theodosius!»
«Hör auf!», kreischte Cristino. «Ich will das nicht hören! Hör auf!»
«Sie haben uns dort eingepfercht wie die Tiere. Schlimmer als die Tiere. Eine Chance zu überleben hatte nur, wer Verwandte oder Freunde draußen hatte, die für ihn zahlten. Ich hatte niemanden. Also machte ich dasselbe wie zuvor meine Mutter. Ich verkaufte meinen Körper an die Wachleute und an andere Gefangene, dafür, dass sie mir ab und zu ein Stück verschimmeltes Brot zuwarfen wie einem Hund einen Knochen! Ich habe zweieinhalb Jahre in dieser Hölle gelebt, Cristino, zweieinhalb endlose Jahre, und als sie mich schließlich gehen ließen, im Januar des Jahres 1548, war ich krank an Körper und Seele. Es war mitten im kältesten Winter, überall herrschte Not und Hunger. Ich schlug mich nach Ais durch, weil ich hoffte, dort überleben zu können, aber in Ais war es genauso schlimm wie überall sonst. Ich versuchte zu betteln, doch kaum ein Mensch hatte genug, mir etwas abzugeben. Für einen Bissen Brot hätte ich bedenkenlos erneut meinen Körper verkauft, Cristi740
no, doch niemand würdigte das halbtote Gerippe, das ich war, auch nur eines Blickes. Schließlich legte ich mich auf die Schwelle des Augustiner-Konvents, um dort zu sterben. Und so haben mich die Mönche gefunden. Und jetzt sag bitte noch einmal, ich hätte keine Ahnung vom wirklichen Leben!»
Cristino heulte. Sie riss sich los und stürzte aus dem Raum. Antonius sank auf die Bettkante. Er zitterte wie in einer eisigen Winternacht. Fast eine Minute saß er so da, rieb seine Arme und klapperte mit den Zähnen, bis er begriff, dass Fabiou am Türrahmen lehnte und ihn stumm anstarrte. Er hob den Kopf, sah Fabiou aus weiten, zuckenden Augen an und starrte wieder auf seine Knie.
«Josephus Latinus», sagte Fabiou.
Antonius hob wieder den Blick. Er schwieg.
Fabiou ging zum Fenster hinüber. Draußen flatterten Tauben auf und stiegen empor in das makellose Blau des Himmels. Ein märchenhafter Tag, wie gesagt. «Josephus Latinus – Jousé der Lateiner», wiederholte er. «Das war ein Name in den Annalen von Galaud. Beim Prozess gegen die Antonius-Jünger. Ein kleiner Junge, dessen hervorstechendste Eigenschaft war, dass er Lateinisch sprach. Wahrscheinlich war er es, der Joan lou Pastre beibrachte, wie man Santonou schreibt. Er war noch zu jung für den Galgen. Also wurde er in Ate eingekerkert.»
Bruder Antonius starrte ins Leere. «Ich habe es von einem Mönch in Sant Roumié gelernt, wo ich gelebt habe, als meine Mutter starb», sagte er leise. «Einer von denen, die das Gebot der Nächstenliebe ernst nahmen. Er kümmerte sich um die elternlosen Kinder in der Stadt, er gab uns zu essen und schenkte uns abgelegte Kleider. Und er unterrichtete uns. Von ihm habe ich lesen und schreiben und rechnen gelernt, Latein und sogar ein bisschen Griechisch. Es ist mir leicht gefallen, ich war ein wissbegieriges Kind. Drei Jahre nach meiner Mutter starb auch er.» Fabiou hörte ihn nach Luft ringen. Er sah ihn nicht an. Sein Blick folgte den Tauben, die hoch über der Stadt den Wolken zustrebten.
«Die nächsten zwei Jahre war ich völlig mir selbst überlassen. Der Winter 1542 auf 1543 war sehr hart. Die Menschen verbarrikadierten sich in ihren Häusern, und es gab praktisch nichts mehr 741
zu stehlen. Schließlich trieb mich der Hunger aus der Stadt. Ich dachte, dass ich vielleicht auf dem Land, bei den Bauern etwas
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