Die Kinder des Ketzers
Essbares finden könnte, doch die Bauern passten ebenso gut auf ihre Vorräte auf wie die Städter. Irgendwann, auf der Straße nach Lauri, konnte ich nicht mehr weiter. Ich blieb einfach liegen, auf dem vereisten Boden am Straßenrand. Mir war klar, dass ich erfrieren würde, aber, weißt du, in diesem Moment erschien mir das die beste Lösung. Als dieser Reiter schließlich auf der Straße erschien und sein Pferd neben mir anhielt, da war ich überzeugt, es sei der Engel Gabriel, der mich ins Paradies bringen wollte. Aber es war nicht der Engel Gabriel. Es war der Joan.» Bruder Antonius sah auf, und sein Blick brannte so in Fabious Nacken, dass dieser schließlich nicht anders konnte, als sich umdrehen und Antonius in die Augen sehen. «Er hat mir das Leben gerettet, Fabiou, verstehst du? Ich hätte alles für ihn getan.»
Fabiou dachte an das, was Suso über Joan lou Pastre gesagt hatte. Und Loís. Vielleicht fand er es einfach ritterlich.
«Er war so ein unglaublicher Mensch», murmelte Bruder Antonius, versunken in eine ferne Erinnerung. «Ich meine, er war doch nur ein Leibeigener, ein Schäfer, jemand, der nie auch nur den Funken einer Bildung erhalten hatte. Aber er besaß die Fähigkeit, die Menschen mit einem einzigen Satz für sich einzunehmen. Er war noch ein halbes Kind, als Anfang der dreißiger Jahre seine Karriere als Räuberhauptmann begann. Joan stammte aus einem Dorf im Luberoun, den Namen habe ich vergessen. Er hatte eine Schwester, eine Zwillingsschwester, Soufio, ein hübsches junges Ding. So hübsch, dass sie im Alter von gerade fünfzehn Jahren vom Verwalter ihres Herrn hinter einen Busch gezerrt wurde. Joan kam seiner Schwester zu Hilfe, indem er den Verwalter niederschlug. Das Vergehen wurde als Aufstand gegen die gottgegebene Ordnung gewertet, weshalb Joan und seine Schwester in die Wälder fliehen mussten. Zusammen mit anderen geflohenen Leibeigenen schlugen sie sich dort mehr schlecht als recht durch. Es war die Zeit des kaiserlichen Feldzugs, der 1535 die halbe Prouvenço in Schutt und Asche legte. Eines Tages, kurz nach Abzug der Kaiserlichen, lasen sie einen jungen Soldaten auf, der als Söldner auf der Sei742
te des Kaisers gestanden hatte und beim Abzug der Truppen aufgrund einer Verwundung zurückgeblieben war.»
«Enri Nicoulau», sagte Fabiou.
Bruder Antonius nickte. «Der Junge hatte Talent, und vor allem eine militärische Ausbildung», fuhr er fort. «Mit seiner Hilfe machte Joan aus seiner Bande zusammengewürfelter Flüchtlinge innerhalb weniger Monate eine schlagkräftige Truppe. Anfang der vierziger Jahre, als ich zu ihnen stieß, bestand seine Bande aus über zweihundert kampferprobten Männern, die allmählich begannen, den Ordnungskräften in Ais und anderswo Kopfzerbrechen zu machen. Zumal sie bei der einfachen Bevölkerung und durchaus auch beim Landadel, der ja oft mehr auf der Seite der Bauern als auf der der hohen Herren stand, ziemliche Beliebtheit genossen. Nach dem Arrêt de Mérindol stießen noch mal eine ganze Menge überlebende Waldenser zu ihnen, darunter mindestens zehn von denen aus Merindou, denen der Erlass vom Juli ‘40 gegolten hat.»
Die Namen. Favery, Pons, Vian, Pellenc, die Familie Mainard. Nicht alle von ihnen waren von marodierenden Söldnern erschlagen worden oder in den Wäldern verhungert. Da waren auch die, die in der Coumbo de Lourmarin oder am Galgen von Ate gestorben waren. «Und du?», fragte Fabiou. Antonius lächelte. «Sie fragten mich, was ich könne, als ich bei ihnen auftauchte. Ich sagte, stehlen und Latein. Joan gab mich daraufhin bei seinem Experten für Taschendieberei, Miquéu Sest, in die Lehre. Von ihm habe ich alles gelernt – mich lautlos zu bewegen, unbemerkt fremde Taschen zu leeren und mich von einer Sekunde auf die andere unsichtbar zu machen. Aber das war noch nicht alles. Gleich am ersten Abend kam Enri Nicoulau zu mir und fragte mich, ob ich bereit sei, seinen Sohn zu unterrichten.»
«Nicoulaus Sohn», murmelte Fabiou.
«Ja. Nicoulaus Sohn und Joans Neffe – Enri Nicoulau hatte mittlerweile Joans Schwester Soufio geheiratet. Der kleine Janot – er hieß Joan, wie sein Onkel, und wir nannten ihn alle Janot – war etwa vier Jahre jünger als ich. Enri wollte, dass er es einmal besser habe als er. Deswegen durfte ich ihm lesen und schreiben und Latein beibringen. Janot war ein fröhlicher, aufgeweckter Junge, der 743
immer nur lachte und den alle liebten. Ein richtiger Sonnenschein war er, Fabiou. Mein
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