Die Kinder des Ketzers
verklang, geschah es: der Sargdeckel klappte auf, und heraus trat, in voller Rüstung, das Schwert gegürtet, der Tote, einen Becher in der Hand haltend, und sagte, schenk ein, mein Freund, ich bin hier, um mit dir zu trinken. Der Ritter erschrak zunächst, doch er konnte die Bitte seines toten Freundes ja schlecht abweisen, und so schenkte er ihm ein, und sie tranken zusammen. Aus einem Glas wurden zwei, aus zweien vier, und irgendwann war die ganze Flasche leer. In diesem Moment hörte man den Schlag der Turmuhr, die ein Uhr ankündigte, und ebenso plötzlich, wie der Tote erschienen war, verschwand er wieder in seinem Sarg, und der Deckel schloss sich hinter ihm. Der Ritter wurde plötzlich von Grauen erfasst. Er stürzte die Treppe hinauf und rief nach den Dienern, aber niemand antwortete ihm. Am Kopf der Treppe stieß er eine Tür auf und stürzte nach draußen. Doch entsetzt musste er feststellen, dass er nicht 93
in der Eingangshalle einer Burg stand, sondern in den Trümmern einer Ruine. Er suchte sein Pferd und fand es nicht; schließlich, in der Ferne graute schon der Morgen, lief er zu Fuß den Hügel hinunter ins nahe Dorf. Bald erschienen Menschen auf der Straße, Menschen in seltsamer Kleidung, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er fragte sie verwirrt, was denn mit der Burg geschehen sei, was konnte sie über Nacht zerstört haben, ohne dass er es überhaupt gemerkt hatte? Doch die Menschen sahen ihn nur seltsam an und hasteten weiter. Endlich traf er einen alten Mann, der sich seine Geschichte anhörte. Als er geendet hatte, sagte der alte Mann, er erinnere sich, als er ein Knabe war, haben ihm die Alten des Dorfes die Geschichte von einem Ritter erzählt, der nach dem Tod des alten Burggrafen in die Gruft hinabgestiegen und nie mehr heraufgekommen sei. Der Ritter lachte bei seinen Worten. Nie mehr heraufgekommen? Guter Mann, ich war nur eine Stunde in jener Gruft.
Eine Stunde für Euch, ja, sagte da der alte Mann. Aber in der Stunde, die Ihr in der Gruft verbracht habt, sind draußen in der Welt hundert Jahre vergangen.»
Man erwartet Kommentare nach einer Geschichte. Beifallsbekundungen. Kritik. Diskussionen. Schweigen zeugt oft von Langeweile. Nein, es war nicht Langeweile. Der Tisch schwieg trotzdem. Schließlich, ein Keuchen von Claudia. Sie schüttelte sich. «Waaa, ist das unheimlich!»
«Hä, also wie, heißt das, die Zeit ist draußen schneller vergangen als in der Gruft oder was?», fragte Frederi Jùli verständnislos. Keiner antwortete.
«Jetzt erzähle ich eine Geschichte», erklärte Roubert entschieden. «Und zwar», er warf einen geheimnisvollen Blick in die Runde, «eine wahre Geschichte. Und dazu eine, die zum heutigen Tag passt.» Er räusperte sich. «Es ereignete sich hier, in dieser Gegend, zu einer Zeit, die vielleicht zwanzig Jahre her sein mag. Damals reisten zwei junge Edelleute, Brüder, von irgendwo in der Provence nach Ais.»
Cristino drückte mit dem Zeigefinger gegen den Knorpel vor ihrem rechten Ohr, um das Summen darin zu übertönen. Im Hintergrund hämmerte ihr Herzschlag wie ein Schmiedehammer. 94
«Der jüngere von beiden war verheiratet und hatte Kinder, ein oder zwei Söhne, glaube ich, und drei kleine Töchter, und seine Familie begleitete ihn auf der Reise. Der ältere hatte noch keine Frau, er zog nach Ais, um dort zu studieren und ein großer Gelehrter zu werden. Doch als sie des Nachmittags einen dichten, düsteren Wald durchquerten, da brach auf einmal von allen Seiten das Raubgesindel aus dem Dickicht und stürzte sich auf die Reisenden. Die beiden Edelmänner und ihr Gesinde wehrten sich nach Kräften, doch die Räuber waren in der Überzahl, und sie erschlugen den jüngeren Bruder, seine Frau, seine Söhne und fast all ihre Diener. Allein der ältere Bruder und zwei der Dienstboten, ein alter Mann und ein Knabe, überlebten; geistesgegenwärtig gelang es ihnen, die drei kleinen Mädchen vor den Spießen und Schwertern der Mordbuben zu retten und mit ihnen zu fliehen.
Der ältere Bruder haderte furchtbar mit seinem Schicksal. Sein geliebter Bruder tot, erschlagen vor seinen eigenen Augen, ohne dass er ihm hätte zu Hilfe eilen können, und ebenso gemordet seine Schwägerin und seine Neffen! Er ruhte nicht eher, als dass die Mörder gefasst waren und allesamt am Galgen baumelten, und um wiedergutzumachen, was er seinem Bruder nicht hatte tun können, nahm er die Mädchen in sein Haus auf, um sie aufzuziehen wie seine eigenen Töchter. Doch da
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