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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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Dein Vater hat aufgepasst, dass uns keiner gefolgt ist!», meinte sie trotzig.
    «Egal wie, aber sie sind hier! Ich habe sie gesehen, Cristino!»
    «Aber, aber…» Wirr fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare.
    «Komm jetzt, schnell! Wir müssen hier ‘raus! Wenn wir es schaffen, dieses Haus lebend zu verlassen, dann haben wir vielleicht eine Chance!» Er zog sie weiter. Cristino stolperte hinter ihm her. Ihr Herz raste bis zum Hals. Was geschah hier, oh Gott, was hatte das alles zu bedeuten?
    «Still!» Victor war stehen geblieben, lauschte mit geweiteten Augen in die Dunkelheit.
    «Was ist?»
    Seine Lippen zitterten. «B-bleib hier, Cristino, rühr dich nicht von der Stelle. Ich schaue nach.» Er ließ ihre Hand los. «Victor!
    Nein! Lass mich nicht allein!», wimmerte sie, doch er huschte bereits den Gang hinunter. Sie war allein. Der Herzschlag pochte schmerzhaft gegen ihren Brustkorb. Eine Faust umklammerte ihre Luftröhre, drückte sie langsam, gnadenlos zusammen, bis ihr Atem zu einem hohlen Pfeifen schrumpfte. Ihre Hände waren schweißnass. Sie drehte sich um. Dunkel verschwand der Gang hinter ihr in der Ferne, ein riesiges Haus war das, riesig, dunkel und fremd. Zur Rechten hing ein Spiegel an der Wand, einer jener goldgefassten Schmuckstücke, die die Hôtels der Begüterten zierten. Ein gutes, fein gearbeitetes Stück, er verzerrte das Spiegelbild kaum. Sie trat näher, starrte hinein, hauptsächlich um sich von der Tatsache abzulenken, dass sie mutterseelenallein auf einem dunklen Gang in einem fremden Haus stand, in dem womöglich eine Bande von Mördern herumgeisterte, die es auf ihr Leben abgesehen hatten. 955
    Sie schnitt eine Grimasse, als sie ihr Spiegelbild erblickte. Victor hatte ihr weder genehmigt, ihre Haare zu frisieren noch Puder aufzulegen. Auf ihrer Backe prangte ein hässlicher roter Pickel, und ihre Frisur war das pure Grauen. Sie sah einfach entsetzlich aus. Und dann hörte sie das Geräusch.
    Das Geräusch von Wasser, das in ein Becken plätscherte. Das Geräusch eines Springbrunnens, hallend durch einen Innenhof. Cristino starrte in den Spiegel, starrte in ihr eigenes, bleiches Gesicht, aus dem weit und panisch ihre Augen zurückblickten, und darunter das Medaillon um ihren Hals, das Medaillon mit der zarten Maria und dem hübschen Jesuskind, auf dessen Rückseite eingraviert war, sie beschütze dich, Agnes, Sonne unseres Lebens. Ganz langsam ließ sie sich in die Knie sinken und starrte auf die untere Leiste des Spiegelrahmens, auf der in Augenhöhe eines vierjährigen Kindes zwei liegende goldene Löwen einander anblickten, die Mäuler aufgerissen, die langen Reißzähne drohend entblößt. Und ihr Blick ging nach links, und ein unartikuliertes Stöhnen drang aus ihrem Mund, denn dort im Spiegel neigte sich eine Nymphe aus weißem Marmor zu ihr nieder, reckte anmutig ihre Hand in den Glanz des abnehmenden Mondes, der die meanderförmige Zierleiste an der Decke versilberte. Nein, dachte Cristino. Oh mein Gott, nein!
    Guten Abend, Agnes, lächelte die steinerne Nymphe. Willkommen daheim!
    Sie stolperte rückwärts. In ihren Ohren rauschte das Blut lauter als die Aigo Bruno in der Coumbo.
    Neiiiin! Es ist ein Traum! Es muss ein Traum sein! Es kann nicht sein, dass das wirklich ist! Es kann nicht sein, dass ich wirklich dort bin! Es gibt keine Geister! Es kann nicht sein! Es gibt keine Geister!
    Schritte auf dem Gang, Victor, über Marmorplatten kam er auf sie zugerannt, «Cristino, schnell!», keuchte er. Sie stand wie erstarrt. «Victor», wimmerte sie, «oh Gott, Victor, das ist der Gang, der Gang aus meinem Traum, oh Gott, Victor!»
    Und hinter ihnen flog die Tür auf.
    Vier Männer. Ganz vorne der Kahle, den blanken Degen in der Hand, dahinter drei Landsknechte mit gezogenen Schwertern. 956
    Cristino klammerte sich kreischend an Victors Arm fest. Er stand da wie gelähmt, das Gesicht gefroren zu einer Maske der Panik, und da löste sich der Genevois aus der Gruppe und schritt langsam über den Gang auf sie zu, die Klinge glänzend im Mondlicht, und die Landsknechte folgten. Victor löste Cristinos Hand von seinem Arm. Er zog seinen Degen aus der Scheide, ein gleitendes, schabendes Geräusch. «Lauf, Cristino!», rief er. Und Cristino lief. Wirbelte um ihre Achse, stürzte den Gang hinunter, den Gang mit den Marmorplatten, und die marmorne Nymphe winkte ihr zu, wie die Königin bei einem Turnier dem Ritter ihrer Gunst zuwinken mag, ebenso hoheitsvoll wie gleichgültig. Der

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