Die Kinder des Ketzers
Genevois machte zwei große Schritte und war bei Victor. Victor parierte genau zwei Degenhiebe, bis die Waffe wie von Geisterhand aus seinen Fingern gerissen wurde und gegen die gegenüberliegende Wand prallte, bevor sie mit einem fürchterlichen Klirren auf den Boden schepperte. Dann stand er da, sah mit aufeinandergepressten Zähnen in das Gesicht des Genevois, der mit einem leichten, unbeschwerten Lächeln seinen Degen durch die Luft schweben ließ, und wartete auf den Todesstoß.
«Halt», sagte eine Stimme von hinten. «Er nicht. Ihm darf nichts geschehen.»
«Wie Ihr wünscht», sagte der Genevois, und der Knauf seines Degens krachte auf Victors Stirn, und der Junge sackte wie vom Blitz getroffen zu Boden.
«Das Mädchen», sagte die Stimme. «Holt sie. Sie darf nicht entkommen.»
Weit dehnte sich der Gang in die Dunkelheit. Da war der Innenhof, einen Moment lang sah sie den Brunnen mit den drei Schalen, übereinandergetürmt wie die Schichten einer Torte, Wasser statt Zuckerguss quoll über die Ränder. Sie stolperte, mit einem hässlichen Geräusch riss der Absatz von ihrem linken Schuh ab, sie versuchte weiterzulaufen, knickte aber augenblicklich um. Drei Schritte weit humpelte sie so, bevor sie begriff, dass es aussichtslos war, sie schlüpfte aus dem Schuh, schleuderte ihn von sich, dann den zweiten, und sie rannte wieder, kalter Marmor unter ihren bloßen Füßen, bekannt, dieses Gefühl, bekannt aus einem Traum, in dem sie eine andere war, ein kleines Mädchen namens Agnes 957
Degrelho. Hinter sich hörte sie die Schritte ihrer Verfolger. «Da ist sie!», brüllte einer von ihnen, eine raue, tiefe Männerstimme.
«Loís!», kreischte sie. «Loís, hilf mir! Hiiiilf miiiir!»
So viele gegen einen. Der Hirsch auf dem Fresko, das sich zu ihrer Linken an der Wand entfaltete, die drei Hunde, die nach seinem Hals schnappten, das Blut auf seinem Fell, die Jäger mit der Armbrust und den Speeren. So ist es im Leben, sagte der traurige Blick des Hirsches, als sie an ihm vorbeirannte, ihr Herz rasend bis zum Hals, ihre Lungen schreiend nach Luft, immer ist es so, sie sind so viele, und du bist allein. So gemein. So unendlich gemein. Wieder stolperte sie. Diesmal war das Kleid schuld, in dessen Saum sie sich verfangen hatte, sie schlug der Länge nach auf den Boden, ihre Ellenbogen heulten auf, als sie über den Marmor schleiften, ihre Knie schrien um Gnade, schluchzend rappelte sie sich wieder auf, ein stechender Schmerz in ihrem rechten Fußgelenk, oh Gott, Gott, hilf mir doch, ich will nicht sterben, ich will nicht, ich bin doch erst sechzehn, das ist zu jung zum Sterben, hilf mir doch, bitte!
«Loís! Baroun Degrelho! Hilfeee!»
Ihre Kräfte ließen nach. Wimmernd und schweißüberströmt humpelte sie über den Gang, jeder Schritt mit ihrem rechten Fuß
jagte höllische Schmerzen durch ihren Knöchel, und so nah waren die Schritte und die Rufe der Männer nun, vier Männer gegen ein Mädchen, vier Männer mit Schwertern und Messern und Säbeln. Ihre Muskeln protestierten schmerzend, ihr Atem war ein gequältes Fiepen wie von einer verendenden Maus, hier war es, hier hatte im Traum das tote Mädchen gelegen, ausgestreckt auf dem Fußboden, aufgequollen das kleine Gesicht.
«Mamaaa!», schrie sie heulend. «Oh nein, bitte, nein!
Mamaaaa!»
Und da war die Biegung, die der Gang nach rechts macht, und sie folgte ihr, wie Agnes ihr einst gefolgt war, denn einen anderen Weg gab es nicht, und hinter ihr gellten die Schreie der Jäger über den Gang, und keuchend humpelte sie vorwärts, und da war die Stelle, an der die Gänge sich kreuzten, der Stern aus blauen und olivgrünen Steinen auf rotem Grund, schwarz glänzend im Mondlicht, und darüber das Gewölbe, das so hoch und weit war wie 958
eine Kirche. «Loís!», kreischte sie, «Loís, bitte, Loís!», und dann war der Moment erreicht, an dem die Erschöpfung ihre Gedanken verwirrte, und mit schriller, überschnappender Stimme schrie sie:
«Louise!»
Jemand kam, trat heraus aus den Schatten, hinein in das Licht, das der schwindende Mond auf den Stern fallen ließ, und dort stand er, reglos, irreell, eine blutrote Spur wie ein Kainszeichen auf seiner Stirn. Es war nicht Louise. Es war Arnac de Couvencour.
Sie begann zu lachen, schrill, überdreht, während Tränen über ihr Gesicht strömten, sich vermischten mit dem Schweiß, der von ihrer Stirn tropfte. «Arnac!», japste sie, «Arnac, oh, ein Glück, Arnac!», während sie auf ihn zutaumelte,
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