Die Kinder des Ketzers
ihrer Stirn, «das war das Muttermal, das Agnes Degrelho hatte, nicht wahr? Ich bin nie vom Wickeltisch gefallen, stimmt’s?»
«Wir haben es wegätzen lassen. Es war zu auffällig. Archimède Degrelho hätte dich jederzeit daran erkannt», sagte Rouland de Couvencour.
Cristino seufzte leise. «Hat Mutter all das gewusst?», fragte sie.
«Sie wollte nichts davon wissen», murmelte Frederi. «Sie wollte weder hören, wer du bist, noch was aus Louise geworden ist und welche Rolle Archimède bei all dem gespielt hat… Sie legte sich 1029
ihre Geschichte von der Zwillingsgeburt zurecht und nahm dich als ihre Tochter an, und von da an war die Sache für sie erledigt. Manchmal habe ich mich gefragt, ob sie nicht irgendwann angefangen hat, selbst an ihre erfundenen Geschichten über dich und Cristou zu glauben.»
«Auf jeden Fall habt Ihr mich alle ein Leben lang belogen», stellte Cristino ruhig fest.
«Cristino, es war die einzige Möglichkeit, dein Leben zu retten!», sagte Frederi.
«Als ich klein war, ja. Aber später?», fragte Cristino traurig.
«Ich wollte es dir eines Tages sagen, wirklich!», begann Frederi hektisch. «Aber… wir mussten Madaleno schwören, dass keiner von euch je erführe, was 1545 geschehen ist! Sie sagte, sie würde sterben vor Scham, wenn ihre Kinder je hörten, dass sie die Witwe eines Protestanten sei! Und in letzter Zeit – Gott, alle, die die Wahrheit kannten, wurden ermordet! Wie konnte ich es dir da sagen, Cristino!»
Einer räusperte sich in dem schweigenden Raum, in dem alle unangenehm berührt zur Seite sahen: Crestin, und man atmete erleichtert auf, als er das Gespräch zurückholte von jener peinlichen Ebene auf etwas, das so viel weniger delikat zu sein schien:
«Entschuldigt, aber mir fehlt da noch ein gewisses logisches Glied in der Kette. Agnes und Louise Degrelho sind ihrer Mörderin also entkommen, gut. Aber wer waren dann die beiden Mädchen, die man in jener Höhle fand und die Degrelho als seine Nichten identifizierte?»
«Zwei unbekannte Waisenmädchen, die in der Folge des Arrêt de Mérindol gestorben sind, nehme ich an», sagte Fabiou. «Darauf gebracht hat mich diese Geschichte des Totengräbers, der uns erzählt hat, er habe 1545 gesehen, wie die Leichen von im Elend gestorbenen Kindern aus einem Massengrab gestohlen wurden. Zur damaligen Zeit, wo so viele Kinder zu Waisen geworden waren und nun, wo der Winter angebrochen war, irgendwo auf der Straße elendig zugrunde gingen, dürfte es Archimède Degrelho nicht schwergefallen sein, die Leichen von zwei Mädchen zu organisieren, die Agnes und Louise oberflächlich ähnlich sahen. Er hat vermutlich sichergestellt, dass keiner an der Suche teilnahm, 1030
der die Mädchen näher kannte und nicht mit ihm unter einer Decke steckte. Später, bei der Trauerfeier, bei der Menschen anwesend waren, die den Schwindel hätten erkennen können, ließ man die Särge dann geschlossen, angeblich, weil die Leichen einen so schrecklichen Anblick boten.»
«Ich weiß nicht, warum ich all die Jahre niemals Verdacht geschöpft habe, warum mir all die Ungereimtheiten in unserer Familiengeschichte niemals aufgefallen sind», sagte Victor leise. «Dass meine Eltern mich in der Nacht, in der meine Kusinen starben, mit sich genommen hatten, angeblich weil ich alleine Angst hatte. Ich habe niemals Angst gehabt, mit den Dienern zu Hause zu bleiben. Dann meine Mutter mit ihrem ständigen Gerede, dass sie sich schrecklich versündigt habe. Und Rablois – die beiden ermordeten Kinder waren die Söhne eines verstorbenen Großgrundbesitzers gewesen, dessen gesamter Besitz nach ihrem Tod an einen entfernten Verwandten fiel. Seltsam, dass dieses Hexenweib, das angeblich wahnsinnig gewesen war, mit jedem ihrer Morde einem Menschen zu einem gigantischen Erbe verhalf. All das fiel mir erst auf, als Fabiou erzählte, dass Carfadrael mit dem König der Kelche identisch sei. Onkel Hector hatte diesen Gralsfimmel. Als wir den Familiensitz in der Keyrié übernahmen, hingen dort zahllose Bilder an den Wänden, die Szenen aus der Gralslegende darstellten. Und auch sonst fand man überall im Haus Kelche als Motiv, auf Vorhängen, auf Tischdecken… Onkel Hectors Exlibris war ein Kelch, und der Kelch tauchte sogar im zweiten Namen seines Sohnes auf
– Daniel Calixte. Mir wurde schlagartig klar, Onkel Hector musste Carfadrael gewesen sein. Und jetzt endlich fragte ich mich, wer eigentlich einen Nutzen aus seinem Tod gezogen hatte. Es gab vor
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