Die Kinder des Saturn
erotisch empfunden haben, ich selbst finde sie jedoch schlichtweg unpraktisch. Allerdings kann ich in dieser Situation ja gar nichts anderes tun, als meine Zehen zu strecken. Strecken! Ich spüre, wie meine Absätze aus den Fersen herausgleiten, schmaler werden und sich enger an die Fußsohlen legen, während die kleinen Knochen
sich umgruppieren, um mein Gewicht aufzunehmen, das jetzt ganz auf den Zehenspitzen ruht. Ich konzentriere mich, versuche mir auszumalen, wie ich in Paris’ Bett liege, und bemühe mich zu schwitzen – all das, damit diese fatale Aktion reibungslos und gut geschmiert abläuft. Bilde ich mir das nur ein, oder geben die Fesseln tatsächlich ein wenig nach? Als sie meine Fersen an der Schiene festgebunden haben, sind sie bestimmt von größeren und breiteren Füßen ausgegangen, als ich jetzt habe. Ziehen! Strecken! Doch wenn ich auf den Zehen stehe, sind meine Füße nur halb so lang wie normal …
Mein rechter Fuß löst sich einen Sekundenbruchteil früher aus den Fesseln als der linke. Fast ramme ich mir selbst das Knie ins Auge.
Während ich mich mit meinen Füßen vergnügt habe und in Sachen Frisur kreativ geworden bin, hat sich völlige Dunkelheit über die Schienen gesenkt. Um überhaupt noch irgendetwas zu sehen, muss ich die Lichtempfindlichkeit meiner Augen verstärken; das körnige, gespenstische Sternenlicht wäscht alle Feinheiten und Details aus meinem Blickfeld. Gleich wird mir der ungeheure Koloss namens Cinnabar auf den Leib rücken, die Gleise beginnen bereits zu dröhnen und aufzukreischen. Die Stadt wirkt riesig, erstreckt sich über den halben Horizont und reicht mit ihren Turmspitzen bis weit hinauf ins grelle Sonnenlicht. Während das kreischende, knirschende Ungetüm größer wird und die Schienen unter mir beben, drehe ich mich zur Seite und schlage dabei mit den Beinen um mich. Drücken! Meine Arme verzerren sich schmerzhaft, und einen Moment lang habe ich die Vision, eine Radscheibe würde sie mir gleich abtrennen – doch dann gibt irgendetwas nach. Meine Kidnapper haben nicht erwartet, dass ich so etwas schaffen könnte. Gleich darauf gelingt es mir, mich so herumzuwälzen, dass ich der Länge nach an der Schiene liege, die Füße zur Stadt ausgerichtet.
Der Strick kugelt mir fast die Arme aus, doch ich ramme meine Füße und Schultern fest in den Boden, drücke mich heftig hoch und werfe mein ganzes Gewicht zur Seite. Der Strick lockert sich
genau in dem Moment, als über mir der Umriss der unteren Stadtebene aufragt, die so heftig rumpelt und knirscht, dass ich es durch die Schiene hindurch spüren kann – und dann liege ich in dem brennend heißen Sand neben dem Gleis, die Arme noch immer auf dem Rücken gefesselt. Ich kauere mich hin, senke den Kopf auf die Brust, gebe mir einen letzten Ruck und wälze mich weg von dem am Gleis befestigten, inzwischen gelockerten Strick, mit dem meine Arme gefesselt sind, während die Schiene sich aufwölbt, bebt und wie ein böser Geist zischt. Die mächtigen Antriebsräder rollen wie dunkle Scheiben über meinem Kopf an mir vorbei; einen Augenblick lang versucht ein Riese, mir die Arme abzureißen, doch ich zwinge mich dazu, völlig ruhig in der Dunkelheit liegen zu bleiben. Gleich darauf strecken sich meine Schultern, und ich spreize meine Glieder im heißen Sand: Ich bin frei! Zentimeter neben mir rumpeln die Dampfwalzenräder vorbei, genau wie auf der Schiene gegenüber, an die meine Füße gefesselt waren. Und meine Handgelenke sind jetzt frei, denn der entsetzliche Druck der Räder hat den Strick durchtrennt.
Während die Leitwagen über meinem Kopf vorbeidonnern, bleibe ich fast eine Minute lang zwischen den Schienen liegen. Dann ist über mehrere Dutzend Meter hinweg nur noch die Unterseite der Stadt zu sehen, übersät mit Falltüren, Einstiegsluken, Leitern und Rampen und begleitet von Frachtwaggons, die die äußeren Spuren einnehmen. Schließlich stehe ich auf, strecke mich, ziehe meine Absätze größtenteils ein, sorge jedoch dafür, dass meine Fußrücken angespannt und elastisch bleiben. Danach drehe ich mich um und renne dem Leitwagen hinterher, der mich fast in Stücke zerfetzt hätte. Hoffentlich ist er mit einer Leiter und einer Einstiegsluke ausgestattet! Und dann muss ich schnell eine Möglichkeit finden, es diesen Gangstern heimzuzahlen!, denkt eines meiner schwesterlichen Ichs eiskalt.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken: Sie scheint zu wissen, wovon sie redet.
ein einträglicher job
IN
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