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Die Kinder des Saturn

Die Kinder des Saturn

Titel: Die Kinder des Saturn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stross Charles
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der untergehenden Sonne abgewandt. Links von den Schienen ragt der zerklüftete Rand eines Kraters auf, rechts davon erkenne ich eine mit Felsbrocken übersäte Ebene. Um meine Fesseln zu testen, spanne ich mich an und dehne mich. Jetzt weiß ich, was sie mir angetan haben, und das ist keineswegs lustig. Ich bin gesund und munter und werde noch am Leben sein, wenn sich mein Verderben zentimeterweise in mein Blickfeld schiebt und auf tausend Rädern unaufhaltsam auf mich zurumpelt. Die Unterlage, auf der mein Kopf ruht, gehört zu einer Weichenstellanlage. Ich versuche mich aufzusetzen, schaffe es aber nur ein paar Zentimeter, bis die Bewegung mir schmerzhaft an den Haaren zerrt. Die kleinen Gangster haben es um eine der Schienen gewickelt. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Vermutlich nicht viel, antwortet mir eine Erinnerung aus zweiter Hand. Die Stadt Cinnabar bewegt sich mit fast dreizehn Stundenkilometern auf den Schienen vorwärts, und die Zwielichtzone ist nicht sonderlich groß. Ich hake nach, um weitere Einzelheiten zu erfahren, aber das Echo ist so verschwommen
und unspezifisch, dass ich wütend werde. Wahrscheinlich ist es eine von Juliettes Erinnerungen, doch sie ist noch nicht so fest in mir integriert, dass sich unsere Gedanken miteinander verbinden können. Und wird es wohl auch niemals sein, wie mir klar wird: Die Räder werden meinen Kopf und Juliettes Seelenchip zu winzigen Raumtrümmern zermalmen, während Stones Geschwister Witze reißen und mein Ableben von einer der vorderen Aussichtsplattformen aus beobachten.
    Es wird dunkler. Die auf meinen Hinterkopf strahlende Wärme beginnt nachzulassen. Was ist mit den für Wartung und Reparaturen zuständigen Bahnarbeitern? , frage ich mich. Die müssen mich doch sehen … Nicht unbedingt: Flint und Slate haben mich ja wohl nicht gerade dort abgelegt, wo mich potenzielle Retter finden können, oder? Wie lange wird es dauern, bis Paris merkt, dass ich verschwunden bin? Zu lange, erwidert eiskalt das Echo, das leider allzu viel über dieses trostlose Ödland weiß. Du solltest dich sowieso nicht auf ihn verlassen.
    Also gut, du Klugscheißerin, denke ich gereizt, dann hol du mich hier raus!
    Irgendetwas bewegt sich in den messerscharfen Schatten in der Nähe der Schienen. Ich drehe die Augen in die Richtung und versuche die gleißende Helligkeit zu ignorieren. Wer bist du? Stones Zeuge, vor Ort, um mich sterben zu sehen?
    Plötzlich meldet sich eine Intuition in meinem Innern. Lass mich das regeln, sagt mir etwas in meinem Hinterkopf mit großer Selbstgewissheit. Ich weiß nicht, wessen Erinnerung das ist, aber diese Schwester fühlt sich dabei fast glücklich. Also lasse ich sie die Sache übernehmen, und alles fügt sich nach und nach ineinander. Ich konzentriere mich auf meine Chromatophoren, nehme denen, die dem solaren Inferno gegenüberliegen, das vorprogrammierte Reflexionsvermögen. Schließlich verfüge ich ja über die Fähigkeit, in meine Textur und Farbe einzugreifen und meine Haut, die normalerweise die Weichheit des Pink Goo aufweist, in strahlenbrechende, rasterartige Schuppen umzuwandeln. Kurz experimentiere ich damit herum, die Haut an meinen Handgelenken
aufzurauen und meine Fesseln mit Sägezähnchen aus Silizium zu bearbeiten. Doch meine Bewegungsfreiheit ist so eingeschränkt, dass es nutzlos erscheint: Niemals wird es mir gelingen, die Fesseln rechtzeitig durchzuschneiden. Eine Schande, aber so dumm sind Stones rachsüchtige Geschwister nun auch wieder nicht. Also konzentriere ich mich erneut auf die Textur meiner Haut. Es geht um die Brechung des Lichts. Was ich versuchen will, ist knifflige Arbeit, und wenn ich die lichtbrechenden Schuppen nicht rechtzeitig hinbekomme – das heißt der Übergang von der spiegelnden zur lichtbrechenden Oberfläche zu früh erfolgt, so dass der eine Schutz nicht mehr wirkt und der andere noch nicht ausreicht -, werde ich mich furchtbar überhitzen und möglicherweise verschmoren. Ich muss das Licht unbedingt ablenken. Meine Haut rötet sich, wird rau …
    Das Ding im Schatten bewegt sich und hebt sich als seltsam wabernde, dunkle Silhouette vor dem Zwielicht ab. Ich biege den Rücken durch und versuche, den Kopf noch weiter zu drehen, ohne auf den sengenden Schmerz in meinem Schädel zu achten. »Hilfe!«, brülle ich so laut, wie ich es in Elektrosprache vermag. Ich kann spüren, wie die Hitze am Rande meines verspiegelten Rückens leckt und mein Gesicht glüht, während die Schuppen, die jetzt aus

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