Die Kinder des Saturn
davon, gewinnt schnell an Fahrt und stürzt binnen Sekunden durch den flimmernden blauen Vorhang. Noch einige Kilometer wird sie durch den fast leeren Raum innerhalb des Plasmasegels kreuzen und sich weiter und weiter von uns entfernen, während die Pygmalion immer noch mit zehn Zentimetern pro Sekunde im Quadrat die Geschwindigkeit drosselt. Die Rechnung müsste aufgehen: In wenigen Minuten wird sie fast zweihundert Stundenkilometer schneller vorankommen als die miteinander verkoppelten Schiffe. Falls die Bullen tatsächlich so gründlich vorgehen und nicht mehr als eine Aufgabe gleichzeitig bewältigen können (wie man ihnen nachsagt), werden sie sich erst einmal die Zeit nehmen, die Desinfektion der Pygmalion abzuschließen und ihre Drohnen abzuziehen, ehe sie sich vom Schiff abkoppeln. Und das bedeutet, dass sie später ein Ziel von menschlicher Größe aufspüren müssen, das bereits mehrere Dutzend Kilometer von ihnen entfernt ist. Und dann … werden wir weitersehen.
Während ich vom Kabel baumle, schießt mir unvermittelt ein Gedanke durch den Kopf. Ich blicke zu Bill und Ben hinauf. »Und wie schaffen wir’s, wieder an Bord zu gehen?«
»Darüber kannst du dir später den Kopf zerbrechen.« Bill und Ben sind gerade damit beschäftigt, die Säcke an derselben Stelle
festzumachen, an der das Kabel festgezurrt ist. »Komm rauf. Wir müssen in diesen Säcken verschwinden, ehe die Polizei ablegt.« Personen, die sich an der Unterseite der Einstiegsluke festklammern, wären ja auch ein bisschen auffällig, nicht wahr? »Klettere hinein.«
Und so verbringe ich die folgenden zwei Stunden damit, kopfüber von der Unterseite einer Luftschleuse herunterzuhängen, leise vor mich hin zu fluchen, ein Weinen zu unterdrücken, mich zu Tode zu ängstigen und hin und wieder durch die mit Dampf beschlagenen Kameraaugen zu spähen – in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu erhalten oder überhaupt etwas davon aufzuschnappen, was auf der Pygmalion vor sich geht.
Was tut man nicht alles, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen…
»HALLO, JULIETTE, KÖNNEN SIE MICH HÖREN?«
»Können Sie mich hören?«
(Ich bin müde, so müde. Es tut gut, hier zu liegen, in diesem weichen, warmen Bett. Aber er redet mit mir, und ich muss irgendwie reagieren. Ja, das muss ich wohl. Irgendetwas sagen. Aber das ist mühsam.)
»Juliette?«
(Ich muss mich unglaublich anstrengen.) »Chef?«
»Wunderbar! Wir wussten, Sie würden durchkommen! Sie haben sich sehr gut geschlagen, aber der Wartungsdienst sagt, bei Ihnen seien vorübergehend alle Betriebsfunktionen erloschen. Eine Zeit lang haben wir uns große Sorgen um Sie gemacht, aber Sie werden schon wieder. Natürlich muss einiges repariert werden, doch Sie werden im Handumdrehen wieder so gut wie neu sein. Fidel wie eine Fiedel, wie man so schön sagt. Das ist doch Ihr Instrument, stimmt’s? Na, egal. Eigentlich wollten wir, äh, damit nur ausdrücken, dass Sie sich jederzeit an uns wenden können, wenn Sie irgendetwas brauchen.«
(Im Hinterkopf nervt mich ein entsetzlicher, beängstigender Gedanke, aber ich kann ihn nicht richtig fassen. Trotzdem versuche ich ihn mit meinem Sprachsystem so gut es geht zu übermitteln.) »Chef. Die Proben.«
»Die Proben?«
»Sind sie …?«
»Ich fürchte, ja.« In seiner Stimme schwingt Bedauern mit. (Und das bedeutet …)
»Die Gerüchte entsprechen der Wahrheit, zumindest klingen sie plausibel. Die Unbekannten, die dort letztes Jahr eingebrochen sind … Wir können nicht ausschließen, dass sie sich eigene brauchbare Proben verschafft haben.«
(Und das bedeutet, dass er von der anderen Sache nichts weiß …)
»Schlafen Sie weiter, Juliette. Wir können später darüber reden.«
(Schritte, die leiser werden.)
»Uns wird noch genügend Zeit bleiben, diesen Krieg auszutragen.«
»He, Transuse! Kannst du mich hören?«
Langsam komme ich zu mir. »Bill?«
»Nein, Ben. Hör dir das mal an.«
Mit Elektrowahrnehmung und dem altmodischen, Schwingungen auffangenden Gehör lausche ich nach draußen. Aus der Andockschleuse über mir dringen stampfende und knallende Geräusche. Klingt nach hastigem Rückzug. »Hab’s gehört. Gibt’s was Neues?«
»Zapf die Übertragung an.«
Ben schickt mir Aufnahmen des Ganges, der zur Luftschleuse führt. Dichte Nebelschwaden. Ein riesiger Tropfen haftet mitten auf dem Kameraobjektiv und nimmt mir die Sicht, doch nach einem hastigen Einsatz des Filters kann ich die Szene erkennen. Die
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