Die Kinder von Avalon (German Edition)
Künstler wie ich lässt sich schon mal hinreißen.«
Siggi hatte gar nicht mehr zugehört. Bei dem Wort »Rhiannon« war er auf den Durchgang zugestürzt, die Hände vorgestreckt, um der geschundenen Frau aufzuhelfen. Jetzt taumelte er ins Leere. Hinter dem Torbogen lag der grasbewachsene Hang des Hügels. Wind zerrte an Siggis Kleidern. Seine Augen waren voller Tränen.
Er sah den Weg kaum noch, der hier nach links bog, dem Hügel folgend. In einer lang gezogenen Spirale führte er um den Hügel herum und weiter hinauf. Doch obwohl sein Verlauf nun nicht mehr der geraden Linie folgte, war er immer noch die Alte Spur, die auf kürzestem Weg zu ihrem Ziel führte. Es war, als schwinge hier nicht der Pfad in einem Bogen, sondern als wäre das ganze Universum gekrümmt und verbogen und der Weg schnitte mitten hindurch.
Gegen den Wind gelehnt folgte Siggi dem Pfad. Hinter sich hörte er das Schnaufen des Piskeys, der sich mit seinen kurzen, krummen Beinen abmühte, den ansteigenden Weg zu bewältigen. Zwischenzeitlich blieb der Gnom hier und da einmal stehen, wie um sich nach einem Fluchtweg umzuschauen, aber sobald er Hagen mit dem Speer näher kommen sah, rappelte er sich wieder auf.
»Weiter!«, befahl Hagen.
»Ich geh ja schon weiter …«
»Weiter mit der Geschichte! Wie ging sie aus?«
»Oh, der hohe Sohn Dôns will hören, wie es weiterging – aber genug, genug!«, brabbelte der Piskey. »Weiter, ja? Wer das Kind fand, will er wissen? Ein Fischer, sagen die einen. Ein König, die anderen. Ein Zauberer, die dritten. Doch ich glaube, es war Mâth mab Mathonwy selbst, der alte Weise, der den Knaben fand und der ihn lehrte … vieles; zu viel, sagen manche. Und als der Kleine sieben Sommer zählte, brachte er ihn zurück an Pwylls Hof, nach Dyved. Und Pwyll, ihr glaubt es nicht, erkannte ihn an seinen Augen. Rhiannons Augen …«
Siggi hatte inzwischen den Fuß des Turmes erreicht. Seine Hand tastete über die geschwungene Fläche, die sich zu seiner Rechten erhob. Sie war kalt wie Eis und glatt wie Glas. Das Licht, das von der anderen Seite hindurchdrang, verlor sich in grünen, unergründlichen Tiefen.
Staunend ging er weiter. Ein Hall lag in der Luft, als sei das Rauschen des Meeres und das Pfeifen des Windes, der um den hohen Hügel strich, eingefangen in Kristall und in Musik verwandelt: die Töne einer gläsernen Harfe, auf- und abschwellend im Rhythmus der Wellen. Siggis Blick ging nach oben. Die gläserne Wand schien sich in der Unendlichkeit zu verlieren. Ganz oben war ein schmaler Streifen Himmel zu erkennen, der bereits dunkler wurde.
Verwundert sah er sich um. Er hatte geglaubt, der Außenmauer des Gebäudes zu folgen, aber anscheinend war er schon in das Innere vorgedrungen. Auch zu seiner Linken war eine glatte Wand. Er wandte sich um. Überall erhoben sich geschwungene, grün schimmernde Flächen.
Siggi machte ein paar Schritte in die Richtung, aus der er gekommen war – und prallte gegen ein Hindernis.
Seine Hände tasteten nach rechts und links. Zur Linken tat sich eine Öffnung auf. Blindlings folgte er ihr. Der Gang wand sich hierhin und dorthin, bis er gleichfalls abrupt endete. Der einzige Weg führte wieder zurück. Doch dann schien er irgendeine Abzweigung zu nehmen, die Siggi vorher nicht bemerkt hatte, denn er bog sich nach rechts und dann wieder nach links.
Siggi stellte fest, dass er völlig die Orientierung verloren hatte. Er war gefangen in einem Irrgarten, einem Labyrinth aus Glas.
Siggi kämpfte die aufkommende Panik nieder. Wo waren die anderen? Sie waren nur wenige Schritte hinter ihm gewesen. Glaubte er wenigstens. Weit und breit war niemand zu sehen.
»Hagen?«, rief er versuchsweise. »Wo bist du?« Seine Stimme klang gläsern und dünn. Der Hall, der durch die glatten Gänge fegte, riss die Worte mit sich und zerschliff sie an den Wänden.
War da irgendwo ein Echo? Ein Lachen – oder nur Fetzen seiner eigenen Worte?
»Heeeeygen … he-he-heeey … heey …!«
Eine Gestalt schwamm in sein Blickfeld. Einen Augenblick lang glaubte Siggi, es sei Hagen, verzerrt durch die durchscheinende Substanz der Wand. Doch dann sah er, dass der Körper gedrungener war als der eines Menschen, das Gesicht breiter, die Augen größer. Durch das grüne Glas glupschte der Piskey ihn an.
»Hey!« Die Stimme des Piskeys kam gedämpft und verzerrt wie aus weiter Ferne, schwoll an und wieder ab. »Du wolltest doch wissen … Geschichte ausgeht … Pwyll der Narr … nannte ihn Pryderi
Weitere Kostenlose Bücher