Die Kinder Von Eden : Roman
Schwelle.
Sein Aussehen verblüffte Priest. Er hatte mit einem mickrigen Professorentyp in trübbraunen Klamotten gerechnet, kahlköpfig oder mit schütterem Haar. Quercus war dagegen ein hochgewachsener, sportlicher Mann Mitte dreißig mit einem Schopf aus kurzen schwarzen Locken und dunkel beschatteten Wangen, die auf starken Bartwuchs schließen ließen. Bis auf ein Handtuch, das er sich um die Taille geschlungen hatte, war er nackt. Priest sah breite, muskulöse Schultern und einen flachen Bauch. Müssen ein hübsches Paar gewesen sein, die zwei.
Als Melanie die letzte Stufe betrat, sagte Michael: »Ich habe mir große Sorgen gemacht. Wo, zum Teufel, hast du die ganze Zeit über gesteckt?«
»Würdest du dir bitte was anziehen?« sagte Melanie.
»Du hast mir nicht gesagt, daß du jemanden mitbringst«, erwiderte er kühl, ohne seinen Platz auf der Schwelle zu verlassen. »Beantworte mir bitte meine Frage.«
Priest entging nicht, daß Michael die Wut, die sich in ihm aufgestaut hatte, nur mühsam zügeln konnte. »Deshalb bin ich schließlich hier«, sagte Melanie, sichtlich erfreut über Michaels Zorn. Was für eine durch und durch verkorkste Ehe. »Das ist mein Freund Priest. Dürfen wir hereinkommen?«
Michael starrte sie wütend an. »Auf deine Erklärung bin ich gespannt, Melanie. Sie muß verdammt gut sein.« Er drehte sich um und verschwand in der Wohnung.
Melanie und Priest folgten ihm in einen kleinen Flur. Michael öffnete die Badezimmertür, nahm einen dunkelblauen Morgenmantel vom Haken und zog ihn über. Er beeilte sich dabei keineswegs. Zum Schluß legte er das Handtuch ab und band den Gürtel fest. Dann führte er die beiden ins Wohnzimmer.
Es war auch sein Büro. Außer Fernsehapparat, Couch und Sitzecke enthielt es einen Tisch mit Bildschirm und Tastatur sowie eine breite Arbeitsfläche mit zahlreichen elektronischen Geräten, an denen diverse Lichter flackerten. Irgendwo in diesen unauffälligen grauen Kästen waren die Informationen gespeichert, die Priest brauchte. Ohne Hilfe komme ich da nicht ran. Jetzt hängt alles von, Melanie ab. Es ist zum Verrücktwerden.
Eine Wand verschwand fast zur Gänze unter einer riesigen Landkarte. »Menschenskind, was ist denn das?« fragte er. |
Michael streifte ihn mit einem Blick, der soviel besagte wie Was hast du hier eigentlich zu suchen?, und schwieg. Die Antwort kam s von Melanie: »Das ist die St.-Andreas-Spalte«, sagte sie und deutete auf eine bestimmte Stelle. »Sie fängt am Leuchtturm von Point Arena an, ungefähr hundert Meilen nördlich von hier im Bezirk Mendocino, verläuft dann in südöstlicher Richtung an Los Angeles vorbei und reicht im Binnenland bis in die Gegend von San Bernardino. Ein siebenhundert Meilen langer Riß in der Erdkruste.«
Melanie hatte Priest bereits ausführlich erklärt, womit sich Michael beschäftigte. Er war spezialisiert auf die Berechnung von Drücken an verschiedenen Stellen geologischer Verwerfungslinien. Dabei ging es einerseits um die präzise Messung kleiner Bewegungen in der Erdkruste, andererseits aber auch um die Schätzung der Energien im Erdinnern, die sich seit dem letzten Erdbeben akkumuliert hatten. Seine Arbeiten hatten Michael hohe akademische Würdigungen eingetragen. Dennoch hatte er vor einem Jahr die Universität verlassen, um sich als Berater selbständig zu machen. Zu seinen Kunden gehörten Baufirmen und Versicherungsgesellschaften, die über Erdbebenrisiken Bescheid wissen mußten.
Im Umgang mit Computern war Melanie ein Genie. Sie hatte Michael beim Aufbau seiner Anlagen geholfen und seinen Rechner so programmiert, daß er jeden Tag zwischen vier und sechs Uhr morgens, wenn Michael im Bett lag und schlief, die Daten automatisch sicherte. Das hieß, daß alle vorhandenen Dateien auf eine Optical Disc kopiert wurden. Wenn Michael morgens seinen Monitor anstellte, nahm er die Diskette aus dem Laufwerk, verstaute sie in einer feuerfesten Kassette und sorgte somit dafür, daß seine wertvollen Daten selbst dann erhalten blieben, wenn sein Rechner abstürzte oder das Haus abbrannte.
Für Priest war es ein Wunder, daß all die Informationen über die St.-Andreas-Spalte auf eine kleine Diskette paßten. Doch was sollte es – Bücher waren ihm ja auch ein Rätsel. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, was man ihm sagte. Entscheidend war, daß ihm Melanie mit Hilfe von Michaels Diskette jene Stellen würde nennen können, an denen der seismische Vibrator
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