Die Kinder Von Eden : Roman
wenig kauzig anmutende Selbstherabsetzung überraschte Judy; allmählich wurde ihr der Mann sympathischer. »Irgendwer könnte Ihnen doch die Informationen entwendet haben, ohne daß Sie es hätten merken müssen. Ist in letzter Zeit bei Ihnen eingebrochen worden?«
»Nein, noch nie.«
»Könnte ein Freund oder Verwandter die Daten kopiert haben?«
»Das glaube ich nicht. In diesem Zimmer hält sich ohne mich niemand auf.«
Judy ergriff das Bild, das auf dem Schreibtisch stand. »Ihre Frau oder Ihre Freundin?«
Sichtlich verärgert nahm er ihr das Foto aus der Hand. »Ich lebe von meiner Frau getrennt, und eine Freundin habe ich nicht.«
»Ach ja?« Judy hatte nun alles gehört, was sie von ihm wissen wollte. Sie erhob sich. »Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich genommen haben, Professor.«
»Bitte nennen Sie mich Michael. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen.«
Judy konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Sie begreifen schnell, worum es geht«, fügte Michael hinzu. »Das macht richtig Spaß.«
»Nun … also gut.«
Er begleitete sie zur Tür und schüttelte ihr die Hand. Seine Hände waren groß, der Druck jedoch erstaunlich sanft. »Wenn Sie weitere Informationen brauchen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.«
Judy riskierte eine ironische Replik. »Vorausgesetzt, ich rufe vorher an und vereinbare einen Termin mit Ihnen.«
»Genau«, erwiderte er und verzog keine Miene.
Judy nützte die Rückfahrt über die große Brücke zum Nachdenken. Eines war nunmehr klar: Die Drohung war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Daß eine Terrorgruppe imstande war, ein Erdbeben auszulösen, lag zumindest im Bereich des Denkbaren. Diese Leute benötigten zwar genaue Daten über die kritischen Zonen entlang der Verwerfungslinie und mußten etwas von den ›seismischen Fenstern‹ verstehen, doch alle diese Daten waren verfügbar. Sie brauchten nur jemanden, der sie lesen und interpretieren konnte. Und sie mußten Mittel und Wege finden, Schockwellen in den Erdboden zu schicken. Das war das schwierigste Problem – aber man konnte nicht ausschließen, daß sie auch dies bewältigten.
Was Judy selbst betraf, so stand sie jetzt vor der alles andere als angenehmen Aufgabe, der rechten Hand des Gouverneurs zu erklären, daß die Drohung ernst zu nehmen war – sehr ernst sogar.
Kapitel 5
Am Donnerstag erwachte Priest im ersten Morgengrauen. Er wachte immer früh auf, das ganze Jahr über. Er hatte nie viel Schlaf gebraucht – außer nach langen, heißen Partys, aber die gab es inzwischen nur noch höchst selten.
Ein Tag noch.
Absolutes Schweigen, das einen die Wände hochtreiben konnte, war bisher die einzige Reaktion von Seiten des Gouverneurs und seiner Mitarbeiter gewesen. Die da oben taten, als habe es nie eine Drohung gegeben, und im Grunde galt für die Medien dasselbe. In den Nachrichtensendungen, die Priest im Autoradio hörte, wurden die Kinder von Eden kaum jemals erwähnt.
Nur einer nahm sie ernst, und das war John Truth. In seiner Sendung griff er Gouverneur Mike Robson jeden Tag an. Bis gestern war von den Behörden immer nur die stereotype Auskunft gekommen, das FBI habe »Ermittlungen aufgenommen«. Am Abend hatte Truth dann jedoch gemeldet, daß der Gouverneur am nächsten Tag eine Stellungnahme abgeben wolle.
Von dieser Erklärung hing nun alles ab. Ließ sie Kompromißbereitschaft erkennen und wenigstens anklingen, daß der Gouverneur die Forderung nach einem Baustopp für Kraftwerke auch nur in Erwägung zog, wäre alles in Butter. Fiel die Stellungnahme jedoch unnachgiebig aus, würde er, Priest, ein Erdbeben auslösen müssen.
Bin ich wirklich dazu imstande?
Wenn Melanie über die Verwerfungszone sprach und darüber, wie man die Platten zum Rutschen brachte, klang es sehr überzeugend. Aber ausprobiert hatte es letztlich bisher noch niemand. Auch sie gab zu, daß von hundertprozentiger Sicherheit nicht die Rede sein könne. Was würde geschehen, wenn es nicht klappte?Was, wenn es klappte und sie erwischt wurden? Was, wenn es , klappte und sie, die Verursacher, bei dem Erdbeben selber drauf-gingen? Wer würde sich dann um die anderen Kommunarden und um die Kinder kümmern?
Er drehte sich um. Melanie lag mit dem Kopf auf dem Kissen neben ihm. Er studierte ihr unbewegtes Gesicht. Ihre Haut war sehr weiß, die Wimpern fast durchsichtig. Eine Strähne ihres langen, roten Haars fiel ihr über die Wange. Priest zog die Decke ein wenig herunter, betrachtete ihre schweren,
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