Die Kinder von Erin (German Edition)
bislang kaum etwas gesehen. Sie kannte nur den Strand am einen Ende von Erin und die unwirtliche Karstlandschaft am anderen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Entfernung dazwischen lag. Sie wusste nicht, ob und wo sie in diesen Weiten auf Menschen stoßen würde und ob sie ihr feindlich gesinnt waren oder nicht. Sie wusste nur eines: Sie musste hier weg.
Oh, sie hatte keinen Zweifel daran, dass die drei Frauen, Brigid, Ériu und die Caillech, es gut mit ihr meinten. Irgendwie liebten die drei sie sogar. Sie war ihr Kind, ihr Kleines, ihre Schülerin. Sie hatten seit vielen Jahren niemanden mehr gehabt, den sie lehren, den sie in ihre Künste einweisen konnten. Und sie waren alle drei Meisterinnen, unerreicht in ihrem jeweiligen Fach. Doch nicht immer ist das, was die Älteren für ein Kind gut finden, auch das, was das Kind wirklich will. Und was ihm nützt.
Und irgendwie war Gunhild, obwohl sie manchmal noch das Bedürfnis hatte, sich in den Armen ihrer Mutter zu verstecken, kein Kind mehr.
Bei einem ihrer Ausflüge zu der braunen Kuh hatte sie in einem unbeobachteten Moment begonnen, die Karsthöhlen ein wenig tiefer zu erforschen. In der dritten Kammer, die sie entdeckte, fand sie neben anderem alten Gerümpel den Wagen.
Es war nicht etwa so, dass der Wagen gleich den Gedanken an ein Fluchtgefährt in ihr geweckt hatte. Aber sie hatte noch nicht vergessen, wie Ériu ihr erzählt hatte, dass die Tuatha Dé Danann in ihrer Blütezeit auf Streitwagen kämpften und wie sie sich betrogen gefühlt hatte, weil man ihr keine Chance gegeben hatte, die Kunst des Wagenlenkens zu erlernen. Zugegeben, zu einem Wagen gehören auch Zugtiere, in der Regel, wie bei diesem, zwei. Und von Pferden war weit und breit nichts zu sehen. Aber das mochte sich ändern. Inzwischen konnte sie vielleicht den Wagen reparieren.
Der Wagen war, auf den ersten Blick betrachtet, in einem ziemlich erbärmlichen Zustand. Die Farbe, die ihn einst mit bunten Ornamenten geschmückt hatte, war abgeblättert, das Flechtwerk der Seitenteile verfault und zerfallen, das Ledergeschirr knochenhart, und die Nabe und die Eisenteile der Achse waren voller Rost. Doch das Holz war noch gut, alte Eiche, die durch die Gerbsäure in ihren Fasern mit dem Alter eher noch stärker und fester geworden war. Selbst die Speichen der Räder, obwohl zum Teil lose, waren alle noch erhalten. Mit ein wenig Arbeit ließe sich das alles sicher wieder instand setzen.
Brigid war zunächst überhaupt nicht erbaut von der Idee. Ihrer Meinung nach lenkte dies nur ab von den Dingen, die wirklich wichtig waren. Inzwischen hatte Gunhild begonnen, auch Brigid mit etwas anderen Augen zu sehen. Hatte sie die junge Frau anfangs bewundert, in ihr sogar eine Art Vorbild gesehen, so hatte sie mittlerweile das Gefühl, dass in der Zielstrebigkeit, mit der Brigid die Dinge anging, auch etwas Engstirniges lag. Was keinen erkennbaren Zweck hatte, war für Brigid sinnlos.
Ériu war da anders. »Das Kind hat so viel zu lernen«, sagte sie, »dann lass ihm doch die Freude. Wenn es der Kleinen Spaß macht …«
Ja, sie begann ihr sogar zu helfen, zeigte ihr, wie man warmes Fett in das Leder hineinrieb, um es wieder geschmeidig zu machen. Die Caillech lehrte sie, wie man gewässerte Weidenruten zu einem Korbgeflecht verband. Und selbst Brigid half ihr, auf ihre Art, indem sie ihr eine Bürste aus Kupferdrähten lieh, mit der man den Rost entfernen konnte.
So saß Gunhild in jeder freien Minute auf der Bank vor dem Eingang von Cruachan und feilte und putzte an ihrem Gefährt. Sie war handwerklich schon immer recht geschickt gewesen. Es machte ihr Freude, zuzusehen, wie unter ihrem Händen etwas, das schon auf den Müll geworfen worden war, zu alter Schönheit aufblühte.
Auch die Schönheit des Ortes sah sie jetzt mit ganz neuen Augen. Zwar pfiff immer noch der Wind um die Mauern, und die Landschaft war karg und unfruchtbar. Doch der Kalk war durchzogen von grünen Flecken, wo der Wind, nachdem das Eis geschmolzen war, Erde angesammelt hatte, in der zuerst Gras und dann auch andere Pflanzen Nahrung gefunden hatten. Inzwischen kannte sie auch ihre Namen: der nickende Enzian, die kleinen Sterne des Steinbrech, Silberwurz und Kuckucksknabenkraut. Man sieht eben nur, was man kennt, dachte sie und wunderte sich selbst, wie sie oft im Urlaub mit viel zu wenig Kenntnis von den Schönheiten der Fremde gleichsam mit blinden Augen durch ein Land gezogen war.
So, in Gedanken versunken dasitzend, sah sie dann
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