Die Kinder von Erin (German Edition)
Pferdegetrappel noch Waffengeklirr. Auch von Brigid und Ériu war nichts zu sehen oder zu hören. Gunhild hatte das Gefühl, als wäre sie ganz allein auf der Welt – allein mit dieser verrückten alten Hexe, die im Innern der Feste auf sie wartete, um irgendwelche unaussprechlichen Dinge mit ihr zu tun.
Gunhild schauderte. Sie band den ledernen Eimer an ein langes Seil, das neben dem Brunnen lag, und ließ ihn hineinplumpsen. Das Wasser darin, als sie ihn wieder hinaufzog, war so klar, dass es fast blau schimmerte. Gunhild unterdrückte den Impuls, von dem Wasser zu trinken; es war eiskalt, aber sie wusste, wie gut es schmeckte, ganz anders als das Wasser aus der Leitung zu Hause. Doch sie sollte sich besser beeilen, damit die Alte es sich nicht doch noch anders überlegte.
Sie musste noch zweimal zum Brunnen laufen, ehe der Kessel voll war.
»Und was jetzt?«
»Geduld«, sagte die Caillech. »Geduld, mein Täubchen.«
Geduld war, wie Gunhild wusste, nicht gerade eine ihrer Stärken. Genau genommen war der Mangel an Geduld sogar eine ihrer Hauptschwächen. Dennoch zwang sie sich zur Ruhe. Sie ließ sich der Alten gegenüber auf die Fersen nieder und starrte in den Kessel.
Nichts geschah. Sie hatte erwartet, dass die Alte jetzt irgendwelche Kräuter oder Öle in den Topf werfen würde, aber nichts dergleichen. Das Wasser im Kessel war so klar, das man bis auf den Grund blicken konnte. Nach einer Weile wurde die verkrampfte Haltung für Gunhild unerträglich, sodass sie die Stellung ihrer Füße verlagerte, um die Anspannung aus den Muskeln zu nehmen.
Selbst die winzige Bewegung erschütterte den glatten Spiegel des Wassers, ließ Wellen darüber laufen, die sich an den Rändern brachen.
»Zzzzzzz!«, zischte die Alte.
Gunhild erstarrte. Die Wellen im Kessel verebbten, löschten sich gegenseitig aus.
»Sehen ist glauben«, sagte die Caillech. »Glauben ist sehen. Was willst du sehen, mein Kind?«
Der Glanz vom Grunde des Kessels blendete Gunhild, sodass sie die Augen zukniff. Ein Tränenfilm verschleierte ihren Blick.
»Hagen«, sagte sie.
Und sie sah …
… das Gesicht eines jungen Mannes; kein Knabe mehr, sondern ein Krieger. Seine Haut war hell, gerötet vom Sonnenlicht oder einem inneren Feuer, das in ihm glühte. Seine Augen waren so dunkel wie sein Haar. Doch in seinen Augen lagen ein tiefer Schrecken und eine Weisheit, die nicht aus der Erfahrung vieler Jahre geboren ist, sondern aus der Erkenntnis des Augenblicks und der Erinnerung an viele vergangene Leben, viele andere Schicksale, die er – oder ein anderer wie er – durchlebt und durchlitten hatte.
Er trug eine rote Tunika; Gold blinkte an Hals und Armen und am Saum des Gewandes. Dazu seltsam unpassende blaue Hosen sowie Schuhe, die einmal weiß gewesen waren. Er hielt etwas in der Hand, in das er hineinstarrte wie in einen Spiegel. Doch es war kein Spiegel; es war – ein Speer, mit einer silbern glänzenden Klinge.
»Was siehst du, Cúchullin?«
Der Sprecher war das genaue Gegenteil des Kriegers. Er war alt, klein, runzlig und braun wie eine verschrumpelte Walnuss. Er trug ein langes blaues Gewand mit einer goldenen Fibel; es sah aus wie eine Art Ordenskleid. Mit funkelnden Augen sah er zu dem jungen Mann hinauf, den er ›Cúchullin‹ genannt hatte.
»Ich sehe … ein Mädchen. Eine junge Frau.«
Gunhild …
»Kennst du sie?«
Der Krieger schüttelte den Kopf. »Mir ist … als hätte ich sie einmal gekannt. In einer anderen Zeit … einer anderen Welt …«
»Vielleicht habe ich sie schon einmal gesehen«, sagte der Alte.
»Wann? Wo?« Cúchullins Griff war schnell, hart, entschlossen. Ehe der kleine braune Mann sich versah, zappelte er in den Luft. »Sprich, wenn dir dein Leben lieb ist!«
»Lass mich erst runter! Sonst sag ich gar nichts!«
»Ich kenn dich, Zwerg. Dich und deine Brut. Schwör mir, dass du die Wahrheit sagst. Schwör es beim Speer!«
»Beim Speer, beim Schwert, beim Stein, bei was du willst.« Der arme Kerl bekam fast keine Luft mehr. »Nur beim Kessel schwöre ich nicht.«
»Das genügt mir.« Er ließ ihn herunter. »Wo ist sie?«
Der kleine Mann rieb sich den Hals. »Ich …«, begann er, aber die Stimme verließ ihn und er musste husten. »Ich habe sie am Meer gesehen, als die Einäugigen sie fortschleppten. Zur Insel Manannáns.«
»Wo ist diese Insel? Kannst du mich hinführen?«
»Ich kann dort nicht hin. Sie liegt unter dem Meer.«
»Unter dem Meer? Dann ist sie … ist das Mädchen
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