Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
Lebenslinien zu sehen? Sagen wir mal, es käme mir auf die Lebenslinien eines Pferdes oder eines Reiters an. Bis auf welche Entfernung könnt ihr sie spüren?«
»Wir sollen anscheinend in der Nacht Wache halten«, sagte Gorian.
»Das ist mir tatsächlich durch den Kopf gegangen«, bestätigte Jhered. »Nun?«
»Wenn wir uns konzentrieren, können wir ein so großes Lebewesen leicht erkennen, sobald es sich durch den Wald bewegt«, sagte Gorian. »Selbst an einem Ort wie diesem, wo die Energien so stark sind.« Zustimmung heischend, sah er sich zu den anderen um.
»Wirklich?«
Arducius zuckte mit den Achseln. »Wir haben das noch nie gemacht.«
»Nun ja«, überlegte Jhered. »Ihr hattet vorher auch noch nie einen Adler gesteuert, aber das Ergebnis war beeindruckend. Wie wäre es, wenn ihr noch einmal versucht, mich zu beeindrucken?«
»Wir machen das nicht, um Euch zu beeindrucken«, widersprach Ossacer. »Wir machen das, um zu lernen.«
»Das ist mir egal, solange ihr euch dabei gut fühlt«, sagte Jhered. »Kommt jetzt, esst auf. Wir müssen weiter.«
So spät im Solastro kam die Dunkelheit schon früh. Gorian lehnte mit dem Rücken an einem Baum, während die anderen hinter ihm unter den Fellen schliefen, die ihnen in Kark so gute Dienste geleistet hatten. Sie hatten ihr Lager direkt am Flussufer aufgeschlagen. Über Nacht wurde es empfindlich kühl, auch das ein Vorzeichen des kommenden Dusas. Jhered hatte ihnen wie angekündigt nicht erlaubt, ein Feuer zu entfachen. Die Aufgestiegenen konnten natürlich die Energie aus der Umgebung benutzen, um sich zu wärmen, aber das war anstrengend und ohnehin nicht mehr möglich, sobald sie schliefen.
Menas war in der Dämmerung ins Lager zurückgekehrt und hatte berichtet, dass ein paar Meilen entfernt tsardonische Späher die Gegend überwachten. Die Gruppen waren jeweils acht oder zehn Reiter stark. Das war beängstigend und hatte einige aufgeregte, flüsternde Unterhaltungen ausgelöst. Die Folge davon war, dass in den dunkelsten Stunden der Nacht auch Jhered wachte.
Gorian öffnete sich für die Energien ringsum. Sie waren trüb, die Welt ruhte jetzt. Er verfolgte die schlafenden Energiebahnen der Bäume, das sanft pulsierende Grün und Braun, und den Fluss, der hinter dem Bambusdickicht dahinströmte. In ihm zuckte das Leben der Fische, die seinem Lauf folgten, wie in einem atemberaubenden schimmernden Kaleidoskop.
Auf dem Boden schnüffelten und krochen nachtaktive Tiere. Er konnte die gedrungenen Umrisse von Dachsen erkennen, die flüchtigen Farben und Energien von Mäusen und Ratten, die glatten Linien von Füchsen. Es war schwer, ihnen längere Zeit zu folgen. Sie alle konnten auch ihn spüren, doch er konzentrierte sich darauf, Dunkelheit auszustrahlen, was ihnen Angst machte und sie vertrieb. Diese Wesen mit kleinen Gehirnen konnte er mühelos seinem Willen unterwerfen. Er fragte sich, ob er ein Pferd von seinem Weg abbringen konnte. Oder zehn Pferde. Wenn Reiter im Sattel saßen, wäre es eine wahre Schlacht des Willens und der Macht.
Die anderen waren sich dessen noch nicht richtig bewusst. Bei einem Tier waren Wille und Bewusstsein unwiderruflich mit den Energiebahnen und den Lebenslinien verknüpft. Ein Aufgestiegener konnte die Lebenslinien unterbrechen und das Tier steuern, wie er es mit dem Adler und den Gorthocks getan hatte. Je wacher der Verstand, desto schwerer war er zu beherrschen, und desto mehr Energie musste er selbst aufbieten, um das Werk zu vollbringen. Es war ermüdend, und so würde es bleiben, bis er einen Weg fand, um die Energien der Natur zu nutzen.
Jhered kam zu ihm. Der Einnehmer war sehr still, doch Gorian konnte seine Energiebahnen sehen – hell, lebendig und sehr, sehr groß. Die äußersten Fasern griffen ringsum in die Luft und verbanden ihn auf eine Weise mit der Erde und den Elementen, die er niemals wirklich würde erfassen können. Genau diese Wahrnehmung unterschied die Aufgestiegenen von allen anderen Bürgern. Eigentlich war es komisch. Die Tiere wussten um diese Verbindung und benutzten sie auch. Sie konnten den Energiebahnen der Erde und den Strömungen in der Luft und im Wasser folgen. Doch die Menschen waren blind dafür. Die meisten jedenfalls.
»Da draußen ist nichts Gefährliches«, sagte Gorian, ohne sich umzudrehen.
Jhered ging weiter, bis er rechts neben ihm stand. »Hat es dich verwirrt, als du das erste Mal diese Sinneseindrücke aus der ganzen Umgebung hattest? Wie konntest du erkennen,
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