Die Kinderhexe
Stimmte der Gedankengang? Waren seine Argumente schlüssig, würden sie überzeugen? Und: War Grit so weit?
Er drehte sich zu ihr um. Sie wartete ein gutes Stück hinter ihm in einem Durchgang zur Sakristei auf ihren Einsatz. Sie fror unter dem dünnen weißen Hemd und mit den nackten Füßen auf dem kühlen Stein. Für einen überzeugenden Auftritt musste sie das aushalten.
Die Lesung war gesprochen, es folgten Psalmen, das Halleluja und schließlich das Evangelium. Der Diakon las aus dem Matthäusevangelium das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Ludwig hatte lange nach einer passenden Bibelstelle gesucht und diese als Grundlage für seine Predigt ausgewählt.
Gleich war es so weit. Dann würde er hinüber zu der neuen Kanzel gehen, die inmitten der Grabstätten der Bischöfe lag, die die Stadt durch eine wechselhafte Geschichte geführt hatten. Da war das Bildnis eines Rudolf von Scherenberg und eines Lorenz von Bibra, gegenüber die bewährten Hexenjäger Johann Gottfried von Aschhausen und Julius Echter von Mespelbrunn, und schon bald würde er inmitten dieser ehrenwerten Gesellschaft sprechen, er, der vormals unbedeutende Vikar Ludwig, der aus der Bedeutungslosigkeit eines Hilfspfarrers getreten und zu einer Respektsperson der Kirchengemeinde geworden war.
Unter den vielen Bürgern befanden sich auch Barbara und Otto. Seit dem unerwarteten Besuch von Ludwig in der Nacht zuvor waren sie unruhig. Wenn sie Ludwig richtig verstanden hatten, dann war er auf der Suche nach Kathi, was bedeutete, dass sie nicht länger unter seiner Aufsicht im Kloster stand.
Vielleicht hatte sie sich ja nur versteckt, sagten sie sich, um Ludwig einen Schreck einzujagen. Verdient hatte er ihn, aber sie trauten es Kathi nicht recht zu.
Als sie Helene sahen, gingen sie zu ihr.
«Ist Kathi wiederaufgetaucht?», fragte Barbara.
«Wie kommst du darauf?», fragte Helene. «Kathi ist in Neumünster. Pfarrer Ludwig hat mir erst gestern Abend berichtet, wie gut es ihr dort geht.»
«Seltsam», antwortete Otto. «Von uns wollte er wissen, wo sie sich aufhält.»
«Da irrt ihr euch. Wieso sollte Ludwig so eine dumme Frage stellen?»
Barbara und Otto zuckten mit den Schultern. «Auf uns hat er den Eindruck gemacht, als würde er sich Sorgen machen.»
Helene zog die Stirn in Falten. Entweder trieben die Kinder ein böses Spiel mit ihr, oder sie sprachen die Wahrheit. Das musste geklärt werden. Sie schaute sich um. Sie hatte Ludwig doch vorhin noch gesehen.
Der Diakon war mit dem Verlesen des Evangeliums zum Ende gekommen. Nun war Ludwig an der Reihe. Ohne Ankündigung ging er hinüber zur Kanzel und stieg die Stufen empor. Die Bürger schauten den Bischof fragend an, doch der nickte nur.
Nun stand er oben, über allen Köpfen und Erwartungen, räusperte sich und erhob die Stimme. Die Kirchengemeinde war gespannt. Welche Worte des Trostes und der Zuversicht würde der neue Pfarrer in den Tag des Untergangs und des Zerfalls bringen?
Ludwig wiederholte zum Einstieg die wichtige Stelle im Evangelium.
«
Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Während aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen und ging davon
. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen soll uns ermahnen, dass unter uns die guten und die bösen Samen gleichsam wachsen und dass wir die Bösen nicht voreilig ausreißen, damit nicht mit ihnen auch die guten ausgerissen werden.
Lasset beides wachsen
, sprach unser Herr Jesus Christus,
denn zur Ernte werde ich den Schnittern sagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen, dass man es verbrenne; den Weizen aber sammelt in meine Scheune!
»
Er blickte hinüber zum Bischof. Der nickte wohlwollend. Entschlossen fuhr er fort.
«Aber seine Jünger verstanden das Gleichnis nicht, so wie auch wir es in diesen Tagen nicht verstehen. Wieso warten, fragten sie, bis sich das Gute mit dem Bösen vermischt? Es ist doch besser, dieses gleich auszureißen, auch wenn dafür ein guter Halm aufkommen muss. Es sind noch viele andere gute da. Aber Jesus widersprach:
Wartet auf die Schnitter, denn sie sind meine Engel. Sie wissen zu unterscheiden, wer gut und wer böse ist.
»
Er machte eine Pause und sammelte sich. Dann erhob er so laut und anklagend die Stimme, dass niemand ihn überhören konnte.
«Doch wo sind die Schnitter geblieben? Ist es noch nicht Erntezeit, oder sind sie ihrer Augen beraubt worden? Wahrlich, ich sage euch, da ist ein anderer Schnitter unter
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