Die Kinderhexe
die Glieder. Er bekreuzigte sich, so wie es viele andere auch taten.
«Glaubt dieser Hexe kein Wort. Aus ihr spricht der leibhaftige Teufel.»
Wieder diese Stimme, und nun erkannte man auch, zu wem sie gehörte. Aus dem hellen Licht trat ein Junge in den Dom, den einige am letzten Brandtag in der Nähe von Kathi und den Hexenkommissaren gesehen zu haben glaubten. Allerdings war er jetzt gewaschen und trug saubere Kleidung. Seine auffällig forsche und anklagende Stimme hatte Bruder Timotheus ihm freilich nicht nehmen können.
Es war Lorentz.
Er schritt selbstbewusst die lange Gasse entlang, die die Bürger für ihn bildeten. In seiner Gefolgschaft befanden sich weitere Kinder mit schmutzigen Gesichtern. Sie tollten närrisch herum, zogen Fratzen und erschreckten die Erwachsenen mit anstößigen Gesten, wie man sie sonst nur von den Schaustellern auf dem Markt kannte.
Am Ende der Gasse angekommen, zeigte er anklagend auf Grit.
«Dieses Weibsbild», rief er, «hat mit dem Teufel Unzucht getrieben. Sie ist seine getreue Gemahlin und will euch täuschen.»
«Lügner!», schallte es von der Kanzel herab. «Du wagst es, im Haus des Herrn deine giftigen Lügen zu verbreiten?»
«Und du hast ihr dabei geholfen», erwiderte Lorentz. «Ich habe euch beide beobachtet, letzte Nacht, als ihr zum Schalksberg aufgefahren seid.»
«Es reicht!», herrschte Faltermayer ihn an. Er hatte von dem Narrenspiel genug und trat auf ihn zu. «Wer bist du, dass du es wagst, solche Anschuldigungen zu erheben?»
Lorentz wandte sich den Bürgern zu. «Ich bin Lorentz Rußwurm, Sohn des Spielmanns Karl Rußwurm und ergebener Knecht des Herrn aller Hexen und Unholde, des Teufels.»
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29
Es war, als sei der Jüngste Tag angebrochen.
Schwarze Rauchschwaden verdunkelten die Stadt. Sie speisten sich aus brennenden Strohhaufen, die während des Hohen Amts am Markt und in der Domstraße aufgehäuft worden waren. Nahestehende Karren und ihre Ladungen fingen Feuer, Pferde, Ochsen und Esel stürzten aus offenstehenden Stallungen und suchten ihr Heil in blinder Flucht. Ihr Weg kreuzte sich mit ebenfalls flüchtenden Hunden und Katzen. Sie zogen brennende Strohbüschel hinter sich her, jemand hatte sie ihnen an den Schwanz gebunden.
Um die Ecke vom Grünenbaum kam eine Herde Schafe gerannt – nicht friedlich blökend, sondern in heller Aufregung. Kein Wunder, ihre Wolle war mit schwarzem Pech bestrichen worden. Nun hatten sie Feuer gefangen und hasteten als lebende Fackeln auf das Portal des Doms zu.
Erste Schreie drangen aus den Stuben und Küchen auf die Straße. Dazu begannen die Glocken der Ritter-Kapelle und von Neumünster aus unerfindlichen Gründen plötzlich zu läuten.
Die Bürger, die im Dom keinen Platz gefunden hatten und mit den Stufen hatten vorliebnehmen müssen, erkannten als Erste die heraufziehende Gefahr.
«Feuer!», schrien sie. «Kommt alle heraus.»
Ihr Rufen verfing sich im weiten Kirchenschiff und schnitt Faltermayer, Ludwig, Lorentz und all den anderen, die heftig miteinander stritten, das Wort ab. Sie drängten durch das Portal hinaus auf den Vorplatz, wo sie Zeuge eines nicht für möglich gehaltenen Spektakels wurden.
Mit ungläubigen Augen sahen sie die brennenden Tiere, wie sie um ihr Leben schrien und ziellos umherrannten. Rauchfahnen wanden sich um die Häuser, während das Geschrei und die Kirchenglocken alles überdeckten, sodass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.
Doch am schockierendsten war der Anblick der vielen kleinen schwarzen Wesen, die, mit Stöcken bewaffnet, aus den Gassen kamen. Wären sie nicht auf zwei Beinen gegangen, hätte man glauben können, ein Heer von Ratten strömte auf die Domstraße. Es waren die Mitglieder der Schwarzen Banden, die nun unter dem Befehl von Lorentz standen. Über Nacht hatten sie aus den umliegenden Gemeinden Zuwachs bekommen, ihre Zahl war auf hundert angewachsen. Gesichter und Kleidung waren noch immer schwarz wie Ruß. Unter dem Eindruck des Feuers und der Panik schien es, als kämen sie geradewegs aus der Hölle.
Sie kannten keinen Respekt. Wer ihnen auf dem Weg zum Dom in die Quere kam, bezog Prügel. Die Torwachen an der Mainbrücke waren die Ersten, die das zu spüren bekamen. Obwohl es sich bei den Angreifern um Kinder handelte, waren die Wachen unterlegen. Das Heer der Kinder fiel wie Ameisen über sie her und prügelte auf sie ein.
Faltermayer wollte seinen Augen nicht trauen. «Woher kommen nur all die Kinder?» In
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