Die Kinderhexe
Sie trug ein weißes Nachthemd und saß barfuß auf einer Liege. Ihr blasses Gesicht und ein Verband am Arm ließen auf mehrere Aderlässe schließen.
«Ich bin Kathi», antwortete sie und stellte die Schüssel mit der Kohlsuppe auf den Tisch.
«Ich esse hier», bestimmte Anna in einem ungewohnt herrischen Ton.
Kathi kam ihrem Wunsch dennoch nach und reichte ihr Schüssel und Brot. Diese zögerte nicht lange und machte sich schlürfend über das Essen her.
«Ich hörte, du bist ein Waisenkind aus dem Kinderhaus», begann Kathi ihre Nachforschungen.
Anna blickte über den Rand der Schüssel und nickte.
«Wie kommst du dann hierher, ins Spital?»
Sie schaute erneut hinter der Schüssel hervor und musterte Kathi misstrauisch. «Wer bist du, dass du so etwas fragst?»
«Ich bin die neue Aushilfe in der Küche», wich Kathi aus, «du musst keine Angst vor mir haben.»
«Was interessiert es dich dann, wie ich hierhergekommen bin?»
Kathi ließ sich nicht einschüchtern und setzte sich ungefragt zu ihr aufs Bett. «Alle in der Küche fragen sich, wer du bist, dass Doktoren und Schwestern dich versorgen. So viel Aufmerksamkeit wird doch sonst nur einer Adligen oder einer wohlhabenden Tochter von Stand zuteil.»
Der Vergleich mit Adligen gefiel Anna. «Ich bin etwas Besonderes. Ich war letzte Nacht auf dem Schalksberg und kehrte lebendig wieder zurück.»
Kathi quittierte die Antwort mit Bewunderung. «Treiben sich dort nicht Hexen und Unholde herum? Hast du etwa welche gesehen?»
«Und ob», antwortete Anna. «Ich habe sogar den Teufel gesehen.»
Vor Schreck hielt Kathi die Hand vor den Mund. «Tatsächlich? Ist er denn so, wie man ihn beschreibt? Mit Pferdefuß, einem langen Schwanz und dem Kopf eines Ziegenbocks?»
Anna nickte. «Er stinkt nach Schwefel und Gülle. Die Neuen müssen sich ihm unterwerfen und versprechen, nicht länger Christus, sondern ihn als einzigen Gott anzubeten. Dann hält er ihnen sein Hinterteil hin, und jeder muss es küssen. Egal wie es aussieht und egal wie es riecht. Damit ist der Pakt besiegelt.»
«Musstest du das auch tun?», fragte Kathi erschrocken.
«Wo denkst du hin? Nein, die Hexe Babette hat mich zur Probe mitgenommen. Sie wollte sehen, ob ich schon für den Teufel geeignet bin. Als Buhlerin.»
«Und, bist du es?»
Anna biss ein Stück vom Brot ab. «Das wird sich noch herausstellen. Ich bin nicht die Einzige.»
Die Erschrockene und Bewundernde zu spielen fiel Kathi leichter, als sie es gedacht hatte. «Wer ist denn noch dort? Ich meine, welche Weibsbilder könnten es schon mit dir aufnehmen? Du bist schön und hast wunderbares Haar.» Sie streichelte es.
«Es gibt da ein Weib, das mir zuvorgekommen ist», sagte Anna ernst.
«Die Dornbusch? Ist sie es?»
«Ja, dieses fahle und eingebildete Miststück, das ein totes Kind nach dem anderen zur Welt bringt, glaubt, sie könnte mich ausstechen. Aber das wird ihr nicht gelingen.»
Voller Abscheu warf sie die Schüssel zu Boden und schmiss das Brot hinterher. Ihre Züge verfinsterten sich. Kathi glaubte, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Doch Mitgefühl war in diesem Moment fehl am Platze. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, bis Gertrud zurückkam. Sie musste herausfinden, warum dieses Mädchen behauptete, auf dem Schalksberg gewesen zu sein und Felicitas Dornbusch als Konkurrentin erkannt zu haben.
Sie legte fürsorglich den Arm um sie. «Du kennst diese Dornbusch aus dem Kinderhaus. Stimmt das?»
Offensichtlich war das die falsche Frage. Anna blickte auf. Die Trauer war verflogen, und an ihre Stelle war Misstrauen getreten. Sie stieß Kathi von sich.
«Wer zum Teufel bist du? Willst du mich etwa aushorchen und an den Hexenkommissar verraten?» Sie stand auf und stellte sich drohend vor Kathi. «Ich habe ihm längst alles erzählt. Er glaubt mir, genauso wie es die Doktoren und Schwestern in diesem Spital tun. Ich bin etwas Besonderes.»
«Du irrst», hielt ihr Kathi entgegen. «Ich bin nur …»
«Los, verschwinde jetzt», fiel ihr Anna ins Wort. «Sonst werde ich die Schwestern rufen lassen, und dann gnade dir Gott. Sie haben Gerätschaften hier, die dir die Zunge lösen und die Knochen brechen. Du hast mich die längste Zeit ausspioniert.»
Erschrocken wich Kathi zurück. Was war nur mit diesem Mädchen geschehen? Wie konnte der Name der als barmherzig bekannten Felicitas Dornbusch sie so sehr erzürnen? Zwischen den beiden musste sich etwas Schreckliches zugetragen haben, anders war die Reaktion nicht zu
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