Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
zweimal zugestochen haben muss.
Dr. Lilienthal legt dem Gericht eine Reihe von Lichtbildern vor, die während der Obduktion angefertigt wurden. Deutlich ist darauf zu sehen, dass die Dünndarmgekrösewurzel des Angegriffenen an drei dicht nebeneinanderliegenden Stellen durchstochen ist. »Diese Defekte«, führt Dr. Lilienthal aus, »können keinesfalls durch einen einzelnen Stich entstanden sein.«
Er legt dem Gericht weitere Fotos vor, die die Einstichwunde im Unterbauch des toten Christoph Kästner zeigen. »Die Wunde weist eine annähernd dreieckige Form auf«, erklärt er, »die im Fachjargon Großer Schwalbenschwanz genannt wird. Sie entsteht durch Achsdrehung des Messers im Stichkanal. Die Kombination aus Zustechen, Drehung des Messers in der Wunde und erneutem Nachstechen, während das Messer noch im Bauch des Opfers steckt, kann auf keinen Fall durch einen unglücklichen Zusammenstoß entstehen. Das Verletzungsbild zeigt vielmehr, dass die Klinge nach dem ersten Stich halb herausgezogen, dabei gedreht und dann nochmals in den Unterbauch des Opfers gestoßen worden ist.«
Der Obduktionsbefund beweist also eindeutig, dass Christoph Kästner nicht bei einem Gerangel in die Klinge gestürzt sein kann, sondern dass er vorsätzlich getötet wurde.
Banderas Verteidigern ist natürlich klar, dass sie ihren Mandanten nur dann vor einer Verurteilung wegen Mordes bewahren können, wenn es ihnen gelingt, das gerichtsmedizinische Gutachten zu widerlegen. Sie unterziehen Dr. Lilienthal einem regelrechten Kreuzverhör und lassen nichts unversucht, um ihn in Widersprüche zu verwickeln und so Schwachstellen in seiner Argumentation nachzuweisen.
Das gelingt ihnen zwar nicht, doch schließlich setzen sie durch, dass ich – als zweiter verantwortlicher Obduzent – gleichfalls vor Gericht erscheinen muss. Außerdem beantragen sie, einen von ihnen beauftragten Gegengutachter anzuhören.
Der menschliche Dünndarm ähnelt einem Schlauch, dessen zahlreiche Schlingen und Falten nebeneinanderliegen. Für Fachleute ist offensichtlich, dass die dreifache Durchstechung dieser Schlingen, wie wir sie bei der Obduktion vorfanden, nicht von einem einzigen Stich herrühren kann.
Um diesen Sachverhalt für Laien anschaulich zu machen, brachte ich einen Gummischlauch in die Gerichtsverhandlung mit. Ich markierte die Durchstechungen an den entsprechenden Stellen und demonstrierte dem Schwurgericht, dass sich allenfalls zwei der drei Stichstellen zur Deckung bringen ließen, keinesfalls jedoch alle drei. Das bewies, dass das Messer im Körper von Christoph Kästner vor- und zurückbewegt worden sein musste. Außerdem wies ich darauf hin, dass die Einstichstellen in den Darmschlingen unterschiedlich groß waren – wären sie alle drei mit einem einzigen Stich entstanden, dann hätte ihre Größe nicht so deutlich variiert.
Nach ausgiebiger Prüfung schloss sich das Gericht Dr. Lilienthals und meinen Ausführungen an. Der Antrag der Verteidigung, einen Gegengutachter anzuhören, wurde abgelehnt, weil »das Gegenteil der behaupteten Tatsachen bereits erwiesen« sei.
»Das war kein tragischer Unfall«, heißt es in der Urteilsbegründung, »sondern heimtückischer Mord.«
Pablo Bandera wurde zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilt, die er in der Haftanstalt Berlin-Moabit verbüßt.
Sexuelle Tötungsdelikte
S exualmorde rufen in den Medien und in der Öffentlichkeit unweigerlich ein starkes Echo hervor. Das ist nur allzu verständlich: Die Vorstellung, dass ein mordlüsterner Sextäter »da draußen« frei herumläuft und wehrlose Frauen oder Kinder »vergewaltigt, foltert und abschlachtet«, löst wohl in jedem Menschen Urängste aus. Jedoch lässt die meist schrille Berichterstattung leicht vergessen, dass sexuelle Tötungsdelikte nur einen sehr geringen Teil der polizeilich registrierten Kriminalität in Deutschland ausmachen.
Pro Jahr werden hierzulande etwa 15000 Strafanzeigen wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung erstattet. Laut Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts wird durchschnittlich gleichfalls in rund 15000 Fällen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern ermittelt.
Dagegen beläuft sich die Zahl sexuell motivierter Tötungsdelikte jährlich auf zirka 25 Fälle. Im langjährigen Durchschnitt liegt der Anteil dieser Delikte an der polizeilich registrierten Kriminalität in Deutschland bei gerade einmal 0,1 Prozent. In rund einem Fünftel, also bei jährlich etwa fünf sexuellen Tötungsdelikten, sind
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