Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
von Straftaten wurde bereits vorher »viktimisiert«, also in irgendeiner Weise zum Opfer von Übergriffen. Ebenso wie kriminelle Täterkarrieren gibt es auch »Opferkarrieren«. Nicht selten werden Frauen innerhalb relativ kurzer Zeiträume mehrfach zum Opfer von Straftaten wie sexueller Nötigung oder Vergewaltigung. Mit jeder Viktimisierung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person erneut zum Opfer von Verbrechen wird.
Das ist nur auf den ersten Blick rätselhaft: Opfer von Missbrauch oder Vergewaltigung »lernen« oftmals unbewusst, sich als Sexualobjekte zu verstehen – insbesondere dann, wenn entsprechende Erfahrungen bis in ihre Kindheit zurückreichen. Sie definieren sich selbst als Opfer und verhalten sich entsprechend unterwürfig. Ihre Sexualität ist durch traumatische Erfahrungen verformt; ihr Selbstvertrauen ist erschüttert, ihre Selbstschutzmechanismen sind geschwächt. Die Täter spüren, dass die betreffenden Frauen oder Mädchen verwundbar sind, und fühlen sich gerade deshalb zu ihnen hingezogen. Mit fatalen Folgen: Frauen, die in ihrer Kindheit missbraucht worden sind, werden 2,4-mal häufiger erneut zu Opfern sexueller Straftaten als Frauen ohne eine solche Missbrauchserfahrung.
Der Sexualstraftäter ist oft ein guter Bekannter
Der typische Täter bei solchen Delikten ist nicht der anonyme Fremde, der auf Spielplätzen oder nachts auf schlecht beleuchteten Straßen wahllos sein Opfer überfällt. Das suggeriert uns zwar allabendlich das Fernsehen, doch im wahren Leben stammt der Täter bei Sexualmorden im überwiegenden Teil der Fälle aus dem direkten privaten Umfeld seines Opfers.
Diese Erfahrung wird auch durch unsere eigene Statistik der sexuellen Tötungsdelikte in Berlin bestätigt. Knapp die Hälfte der Opfer (48,4%) war mit dem Täter gut bekannt oder sogar befreundet. In sieben von 41 Fällen wurde das Opfer von seinem eigenen Liebes- oder Lebenspartner getötet.
In der forensisch-psychiatrischen Forschung fehlt es nicht an Versuchen, die psychischen Abgründe des Tätertypus Sexualmörder genauer auszuleuchten. Dieses Unterfangen wird jedoch durch die geringe Fallzahl erschwert: Die Datenbasis ist so schmal, dass sie nur wenige belastbare Verallgemeinerungen erlaubt. Das ist keineswegs nur ein »akademisches Problem«: Mit einem aussagekräftigen Kriterienkatalog könnte man potenzielle Ersttäter frühzeitig identifizieren. Neben der Verbrechensprävention ließen sich so auch Rückfallrisiken bei verurteilten Tätern erheblich genauer prognostizieren.
Beim gegenwärtigen Forschungsstand lässt sich nur so viel sagen: Die Täter gehören mehrheitlich dem sogenannten desorganisierten Tätertypus an. So unstrukturiert wie die Tat ist meist die gesamte soziale Situation der Betreffenden. Oftmals leben sie allein, sind sexuell gehemmt und zeigen Verwahrlosungssymptome. Ein erheblicher Teil von ihnen ist arbeitslos, was ihre soziale Randständigkeit (»Dissozialität«) noch verstärkt.
Nicht selten zeigen sie über den sexuellen Bereich hinaus kriminelle Tendenzen und sind beispielsweise wegen Betrugs- oder Diebstahlsdelikten bereits polizeibekannt. Der Typus des Vergewaltigers oder Sexualmörders, der ansonsten ein gesetzeskonformes Leben führt, kommt in Kriminalromanen sehr viel häufiger vor als in der Wirklichkeit. Tatsächlich haben wissenschaftliche Gruppenvergleiche gezeigt, dass Vergewaltiger und Bankräuber eine ähnliche Bandbreite krimineller Aktivitäten aufweisen. Daraus lässt sich aber umgekehrt auch ableiten, dass Sexualstraftäter überwiegend keine Monster mit abnormen Trieben sind, wie das in den Boulevardmedien gerne behauptet wird. Von der Mehrheit ihrer Zeitgenossen unterscheiden sich Bankräuber ebenso wie Sexualstraftäter vor allem dadurch, dass sie sich einfach nehmen, was sie gerade haben wollen – ganz gleich ob es sich um Geld oder um Menschen handelt.
Ein Großteil der »dissozialen« Täter ist unter belastenden sozialen Umständen aufgewachsen, etwa als Scheidungskind, Waise oder im Heim. Viele von ihnen wurden in der Kindheit ihrerseits zu Gewalt- oder (seltener) zu Missbrauchsopfern. Selbst erfahrene Ermittler sind oftmals erstaunt über die besondere Gefühlskälte dieses Tätertypus, dessen empathische Fähigkeiten meist total verkümmert sind. Nicht selten sind es »psychische Zeitbomben« voll destruktiver Impulse, die sich – oft aus scheinbar nichtigem Anlass – in einem sexuellen Tötungsdelikt entladen
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