Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Tötungsdelikten spielt Alkoholkonsum eine erhebliche Rolle. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass rund zwei Drittel der Täter und immerhin ein Drittel der Opfer zum Tatzeitpunkt betrunken oder zumindest angetrunken waren.
Alkohol kann bekanntlich enthemmend, triebsteigernd und aggressionsfördernd wirken. Chronischer Alkoholmissbrauch führt nicht selten zu Persönlichkeitsveränderungen. Durch Alkoholisierung kann die Steuerungsfähigkeit eines Täters herabgesetzt werden – ein Umstand, der möglicherweise später vor Gericht für eine verminderte oder gänzlich aufgehobene Schuldfähigkeit spricht. Umgekehrt wird das Vermögen des potenziellen Opfers vermindert, Situationen realistisch einzuschätzen, Bedrohungspotenzial zu erkennen oder sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Die forensische Forschung kennt drei Szenarien, bei denen es unter Alkoholeinfluss zu sexuellen Tötungsdelikten kommt.
Täter und Opfer trinken zusammen Alkohol, es kommt zu sexuellen Handlungen, und plötzlich gerät die Lage außer Kontrolle – meist, weil sich der Täter durch das Opfer gekränkt, provoziert oder überfordert fühlt.
Die Bereitschaft zu sexuellen Gewalthandlungen bleibt dem Täter normalerweise unbewusst und wird durch seine Selbstkontrolle unterdrückt. Durch Alkoholkonsum werden seine Handlungsbarrieren gesenkt – und es kommt ungeplant zur Tat.
Der Täter hat die entsprechenden Handlungen in seiner Fantasie schon häufig durchgespielt. Da er bei dem betrunkenen Opfer mit wenig Widerstand rechnet, sieht er plötzlich die Gelegenheit, sie in der Realität auszuleben – und entschließt sich spontan zur Tat.
Um einen Täter des unter Punkt 3 skizzierten Typs könnte es sich auch bei dem folgenden Fall handeln, der sich erst vor kurzem in Berlin ereignete. Doch der Nachweis gestaltet sich schwierig, denn der Täter ist intelligent und handelt vergleichsweise planvoll …
Der letzte Tanz
Wie an jedem Werktag geht Sascha Wassilow von der Sprachschule in Berlin-Schöneberg direkt zur U-Bahn-Station am Wittenbergplatz. Der 23-jährige Russe aus dem Nordkaukasus wohnt und arbeitet als Au-pair-Junge bei der Familie eines Landsmanns in Berlin-Reinickendorf.
Vormittags von neun bis zwölf besucht er einen Deutschkurs für Ausländer, an den Nachmittagen und samstags betreut er die kleinen Söhne von Nikolaj und Vera Markov. Nur abends und sonntags hat Sascha frei, doch auch dann geht er selten aus. Seine einzige Leidenschaft scheint das Bodybuilding- und Fitnesstraining zu sein: Nicht selten verbringt er halbe Nächte und den kompletten Sonntag im Fitnessraum der physiotherapeutischen Praxis, die Nikolaj Markov in Reinickendorf betreibt. Dort trainiert er mit Hanteln und Expander oder rennt stundenlang auf dem Laufband.
Als an einem Freitag im April gegen 12:15 Uhr sein Handy klingelt, sitzt Sascha Wassilow in der U-Bahn Richtung Reinickendorf.
»Kolja ist krank«, teilt ihm Vera Markov mit. »Nichts Ernstes, nur ein bisschen Halsweh, aber ich habe ihn aus der Kita geholt und kümmere mich selbst um ihn. Du hast also heute frei und kannst noch in der Stadt bleiben, wenn du willst.«
Der dreijährige Kolja ist der jüngere der beiden Markov-Söhne.
»Und was ist mit Timur?«, fragt Sascha.
»Um den mach dir mal keine Sorgen«, antwortet Vera Markov. »Da ich sowieso zu Hause bin, kann ich auch nach Timurs Hausaufgaben sehen und aufpassen, dass er mit seinem Hockey-Puck keine Fensterscheiben zerschießt.«
Timur ist acht Jahre alt, ein wilder kleiner Bursche, der davon träumt, einmal Boxer zu werden. Sascha hat ihm ein paar wirkungsvolle Boxhiebe beigebracht. Als Jugendlicher hat er selbst einige Jahre in einem Faustkampfclub in Karatschajewsk trainiert. Doch nachdem er bei einer Kneipenschlägerei einem zehn Jahre älteren Mann das Nasenbein gebrochen hatte, wurde er aus dem Boxverein ausgeschlossen.
»Dann gehe ich trainieren«, sagt Sascha. »Ich fahre bei deinem Vater vorbei und hole mir den Schlüssel für die Praxis. Ist das okay?«
Vera Markov zögert einen Moment. »Heute schließt die Praxis um 15 Uhr«, sagt sie dann. »Morgen macht mein Vater dort alles sauber, so wie jeden Samstagvormittag. Du kannst also heute ab drei Uhr trainieren.«
Obwohl es für seine Gemütslage sicher besser wäre, sagt sich Vera Markov, wenn Sascha ab und zu mal mit Freunden ausgehen würde. Aber diese Bemerkung verkneift sie sich. Schließlich ist Sascha ein erwachsener Mann, beeindruckend groß gewachsen
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